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Das Thermometer zeigte 37 Grad.

Der Professor ging wieder zum Spiegel
und riß verzweifelt mit zwei Fingern an der
weiß Gott woher gekommenen, ungerufe¬
nen Nase. Die Nase rührte sich kein bi߬
chen, offensichtlich dachte sie nicht ein¬
mal im Traum daran, sich von dem von ihr
erwählten Platz auf dem Gesicht des Pro¬
fessors zu trennen.

Nein, noch mehr, sie hielt die Berührung
durch die Finger Kallenbrucks für eine na¬
türliche Geste des einfachen Volkes und
ließ gutmütig zwei Rotzer los, die der Pro¬
fessor mit seiner angeborenen Ordentlich¬
keit sofort mit einem Taschentuch wegwi¬
schen mußte. Er tat dies mit jenem ganz
und gar verständlichen Ekel, mit dem jeder
fremden Rotz abgewischt hätte.

Nicht einmal die eisernen Nerven Kallen¬
brucks hielten das aus, der Professor be¬
gann zu weinen, und entsetzt wurde ihm
klar, daß er mit der plötzlich aufgetauchten
jüdischen Nase wie mit seiner eigenen auf¬
zog und daß die Tränen durch den Tränen¬
kanal völlig ruhig in die untere Nasenmu¬
schel flossen, als ob sie diesen Weg von
Kindheit an gekannt und keinerlei Verän¬
derung festgestellt hätten.

Da klopfte es an die Zimmertür.
Professor Kallenbruck verdeckte entsetzt
die Nase mit der Hand und schielte auf die
Tür. Als er den Mann in der Tür erkannte,
schrie er freudig überrascht auf und stürzte
sich überschwenglich auf ihn.

Tatsächlich hätte sich die Vorsehung
nichts Passenderes ausdenken können: Sie
sandte ihm in der Minute der schwersten
Prüfung einen Freund.

*

Herr Theodor von der Pfordten, Mitglied
der Richterkammer, stoppte Kallenbruck
mit einer Handbewegung, er legte ihm die
Hände auf die Schulter und drehte sein
Gesicht sanft zum Licht. Aufmerksam wie
ein Arzt betrachtete er die Nase des Profes¬
sors und neigte dabei seinen grauen Kopf
bald auf die eine, bald auf die andere Seite,
als ob er sich das Phänomen von allen
möglichen Gesichtspunkten her ansehen
wollte. Schließlich trat er einige Schritte
zurück, verschränkte die Hände auf dem
Rücken und begann vorwurfsvoll seinen
Kopf zu wiegen.

„Oh Theodor“, rief Kallenbruck, die auf¬
steigenden Tränen verschluckend, aus.
„Schau, was mit mir passiert ist! Es ist
gerade erst geschehen, eine Minute, bevor
du gekommen bist. Ich wollte meinen Au¬
gen nicht trauen. Sag mir, was das sein
kann! Ist sowas denn schon irgendwann
einmal jemandem passiert?“

Herr von der Pfordten ließ sich, ohne dazu
aufgefordert worden zu sein, im Sessel nie¬
der, verschränkte ein Bein über das andere
und klopfte mit seiner Zigarette auf den
Deckel des Zigarettenetuis.

,Ja-a-a...°. Er dehnte das Wort bedeu¬
tungsvoll und stülpte nachdenklich eine
Lippe vor.

Nachdem er das gesagt hatte, versank er
wiederum in langes Schweigen und stieß
von Zeit zu Zeit akkurate Rauchringe in die
Luft, jene berühmten Pfordtenschen Rin¬
ge, um derentwegen im „Herrenklub“
Wetten abgeschlossen wurden, wobei es
darum ging, wer sie im Dutzend mit dem
Billardqueue auffangen könnte.

Professor Kallenbruck stand wie auf Na¬
deln, erließ in der Erwartung, daß sich jetzt
gleich der süße Balsam des Trostes auf sein
wundes Herz ergießen würde, seinen Blick
nicht von den vorgestülpten Lippen des
Freundes.

„Hat es nicht etwa in deiner Familie väter¬
licher- oder vielleicht mütterseits irgendei¬
nen jüdischen Vorfahren gegeben?“ fragte
Herr von der Pfordten, Mitglied der Rich¬
terkammer, schließlich langsam.
Professor Kallenbruck setzte sich völlig
überrascht auf seinen Sessel.

,» Theodor", rief er vorwurfsvoll aus. ,, Wie
kannst du nur sowas sagen! Du kennst
doch meine ganze Familie genau. War
nicht etwa mein verstorbener Vater ein
enger Freund deines verstorbenen Va¬
ters?“

„, Vielleicht irgendein Großvater oder Ur¬
großvater, den ich nicht das Vergnügen

hatte zu kennen?“ setzte von der Pfordten
kühl sein Verhör fort.

„Du beleidigst mich“, plusterte sich der
Professor auf und streckte die Brust her¬
aus. Die riesige Hakennase auf seinem
blassen arischen Gesicht wurde vor Empö¬
rung sogar rot. ,,Das habe ich von dir nicht
erwartet, Theodor!“

„Ach weißt du, in unserer Zeit...“. Der
Freund zuckte mit den Schultern.

„Ja und außerdem widerspricht das dem
gesunden Menschenverstand. Kann sich
davon vielleicht im fünfzigsten Lebensjahr
ganz plötzlich die Nase verändern?“

„Sag nicht, daß es das nicht gibt! Es ist
durchaus möglich“, beharrte der grauhaa¬
rige Herr mit tödlicher Überzeugtheit. Die
meisten Erbmerkmale machen sich gerade
im reifen Alter bemerkbar. Es ist alles eine
Sache der genotypischen Disposition.“
„Aber bei mir - ich schwöre es dir! — ist
das ganz plötzlich passiert. Gerade eben
habe ich noch im Kreis meiner Familie zu
Mittag gegessen, dann setze ich mich mit
einer Tasse Kaffee her, um die Fahnen
durchzusehen und da, auf einmal...“

„Das ist immer so“ , bekräftigte unerbitter¬
lich der Herr Angehörige der Richterkam¬
mer. „„Konstitutionell begründete Beson¬
derheiten treten manchmal erst in einem
noch späteren Alter zutage als bei dir. Mei¬
nem verstorbenem Großvater etwa, Ge¬
heimrat Albert von der Pfordten, einem
bekannten Bonvivant und Botschafter sei¬
ner Hoheit, des Königs von Preußen am
türkischen Hof auf Lebenszeit, wuchs in
seinem sechzigsten Lebensjahr auf einmal
auf der Stirn eine äußerst abscheuliche
Beule. Und siehe da! Nachdem er sich
durch die Chronik unserer Familie gearbei¬
tet hatte, stellte er fest, daß einer seiner
Vorfahren, Gustav von der Pfordten, Ritter
des Malteserordens, eine ebensolche Beule
über dem linken Auge gehabt hatte. Nach
Auskunft der Chronisten jener Zeit mußte
er sich sogar einen Helm mit einer speziel¬
len Fasson anschaffen.“

„Na ja, eine Beule ist eins, aber eine Nase
istetwas völlig anderes...“ , verteidigte sich
Kallenbruck nun nur mehr schwach. „Kein
einziger meiner Vorfahren hat eine solche
Nase gehabt.“

„Das läßt sich überprüfen“ , meinte beflissen
der Herr Angehörige der Richterkammer.
„Nichts ist einfacher als nach den Akten des
offiziellen Geburtsregisters deinen genauen
Stammbaum zu rekonstruieren.“

Herr von der Pfordten langte nach seiner
goldenen Uhr und erhob sich aus dem Ses¬
sel:

„Wir haben noch Zeit. Wir können jetzt
gleich vorbeischauen.“

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