Dritte-Welt-Sozialrevolution überschritt — aus der Perspektive Washingtons — mehr¬
fach die Toleranz der autonomia periferica: US-Soldaten okkupierten daher im April
1914 den mexikanischen Hafen Veracruz; Interventionsdrohungen hingen während der
ganzen zwanziger und dreißiger Jahre über dem revolutionsgeschüttelten Land; erst die
,,Anstitutionalisierung der Revolution“ unter Président Lazaro Cardenas, der den (1990
aufgegebenen) Weg der staatskapitalistischen Modernisierung markierte, entschärfte
das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten der damals jungen Roosevelt-Regierung.
Trotz aller Kompromisse verzichtete Präsident Cärdenas nie auf den Kern des
mexikanischen Wirtschaftsnationalismus. Cärdenas’ Genie vermied jedoch überhaste¬
te, provokative Schritte. Seine Nationalisierungen erfolgten klug in wohldosierten
Schritten und unter Ausnützung internationaler Konstellationen. Mit der Beschlagnah¬
me der internationalen Erdölfirmen wartete Läzaro Cärdenas sogar bis zum 18. März
1938, einem Zeitpunkt, zu dem Großbritannien und die Vereinigten Staaten, Stamm¬
länder in den Mexiko operierenden Petroleumfirmen, wegen der mitteleuropäischen
Krise nicht intervenieren wollten.
Cärdenas’ Rechnung ging auf: Wohl setzten die betroffenen Konzerne, Standard Oil
(USA) und Royal Dutch Shell (britisch-holländisch) einen Wirtschaftsboykott gegen
Mexiko durch, allein die Strafintervention blieb aus. Mexikos demonstrativer Protest
gegen den kurz vorher erfolgten Einmarsch deutscher Truppen in Österreich sollte die
eigene Position akzentuieren. Daß der Völkerbundprotest am 19. März 1938, einen Tag
nach der Erdöl-Verstaatlichung, deponiert wurde, illustriert die Logik des mexikani¬
schen Kalküls (das damit das Konzept der autonomfa periferica um Jahrzehnte vorweg¬
nahm). \
Unsere Geschichte hat außerdem einen wirklichen Helden: den mexikanischen
Diplomaten Isidro Fabela. Fabela, Humanist, Jurist, Völkerrechtler und Kunstsammler,
Genf berichtete er dem mexikanischen Staatschef Cärdenas, dem er als Freund diente,
ausführlich über die sich verdüsternde Lage in Mitteleuropa. Wie aus seinem persön¬
erschienen, hervorgeht, sah Fabela die europäische Lage schonungslos realistisch.
Insbesondere die Gefährdung Österreichs, intern geschwächt vom Bürgerkrieg 1934,
wurde vom Mexikaner deutlich diagnostiziert.
Als die Interventionsdrohung seitens des nationalsozialistischen Deutschland sozu¬
sagen über Nacht wahr wurde, hatte Isidro Fabela den Text einer Protestresolution fertig
im Kopf.
Diese sollte ursprünglich weitere lateinamerikanische und europäische Staaten zu
Wortmeldungen motivieren, um das Thema der Okkupation Österreichs auf einer der
kommenden Sitzungen der Völkerbundg:ersammlung aufzubereiten. Dieses eigentliche
Ziel Fabelas konnte freilich von der Außenpolitik des Deutschen Reiches vereitelt
werden. Auch schloß sich kein weiteres Völkerbundmitglied dem mexikanischen
Protest an. Dies kann jedoch der Würde der mexikanischen Demarche keinen Abbruch
tun. Auch handelte es sich keineswegs um eine belanglose Geste, sondern Fabelas
Protestnote zeitigte als sofortiges Ergebnis, daß Mexiko den Anschluß nie zur Kenntnis
nahm — was Exilösterreichern in Mexiko viele Erleichterungen ihres Emigratenschick¬
sals brachte. 2 :
Den Entwurf der Protestnote kabelte Fabela am 17. Marz nach Mexiko-Stadt, wo
ihr Inhalt in einer spanischen Fassung prompt freigegeben und sowohl in Mexiko als
auch in ganz Lateinamerika als Agenturmeldung verbreitet wurde. Mexikos - ziemlich
furchtsamer — Außenminister (General) Eduardo Hay gab den Wortlaut kürzelartig in
einem mit 18. März 1938 datierten Telegramm nach Genf frei, ließ allerdings eine
kritische Passage Fabelas über die Schuschnigg-Regierung weg ((,,... andererseits
vertreten die Behörden, welche die vollziehende Gewalt preisgaben, keineswegs das
österreichische Volk, das sicherlich den Tod seines Vaterlandes als eine düstere
Tragödie ansieht ...‘“) Fabela beließ diesen Satz dennoch in der (selbstgetippten)
französischen Fassung, die als zweiseitiger Brief mit Datum des 19. März 1938 dem
Generalsekretär des Völkerbundes, Joseph A. Avenol, übergeben wurde.
Hatte übrigens Isidro Fabela Grund, als Mexikaner der Schuschnigg-Regierung zu
grollen? — Ja, durchaus. An und für sich,genoß das revolutionäre Mexiko im katholi¬
schen Ständestaat wegen der schroff antiklerikalen Position und der „Rebellion der
Cristeros“ im Aztekenland keinen sonderlich guten Ruf (wobei insbesondere katholi¬
sche Missionszeitschriften die Kirchenverfolgung in Mexiko anprangerten). Aber
Außenpolitik kümmert sich nicht um Moral, sondern muß realistisch handeln. Deswe¬
Marie Frischauf-Pappenheim
Foto: DÖW