Charakter‘, ein Element also, das üblicherweise als Grundlage für die Errichtung von totalitä¬
ren Staaten dient. Unter uns Mexikanern ist die Idee tief verwurzelt, daß in der österreichischen
und der deutschen Gesellschaft eine starke, unflexible und mechanistische Struktur vorherrscht,
in der Werte, welche von uns hochgeschätzt werden (z.B. die Wärme in zwischenmenschlichen
Beziehungen, Lebensfreude, Spontaneität, die Fähigkeit zu improvisieren oder die ,,funktio¬
nelle Unordnung“) nicht gern gesehen sind und sogar verworfen werden.
Wenn verschiedene Aspekte der deutschen Kultur, wie z.B: die extreme Pünktlichkeit,
Effizienz um jeden Preis, Strenge, Disziplin, Beharrlichkeit und Perfektionismus für den
Bereich der Unternehmer von hohem Wert sind, so können sie doch auf menschlicher Ebene
zu Synonymen einer „‚Robotisierung“ des Alltags werden, zu Synonymen einer extremen und
unmenschlichen Durchorganisierung des Lebens.
Die Vorstellung von der österreichischen Gesellschaft als einer Gesellschaft, in der eine
ästhetische Moral vorherrscht, hat viel mit diesem Bild von Ordnung, Effizienz und Genauig¬
keit zu tun. Diese ästhetische Moral ist bei uns vor allem durch den Reichtum der österreichi¬
schen Musikkultur bekannt. Im Unterschied zu anderen Kunstrichtungen fand die Musik
überall, sogar auf dem Niveau der breiten Masse, größten Anklang. Deshalb ist es auch nicht
verwunderlich, daß viele von den heute in Österreich lebenden Mexikanern etwas mit Musik
zu tun haben (oder gehabt haben), sei es nun als Studenten, Interpreten oder Gastinterpreten.
Die österreichische Gemeinschaft in Mexiko stellt einen Teil der deutschsprachigen Kolonie
dieses Landes dar. Allerdings besitzen die Österreicher, im Gegensatz zu den Deutschen oder
Schweizern, keinen eigenen sozialen oder akademischen Raum, keinen Club und keine Schule,
die sie speziell identifizieren oder hervorheben würden.
Jahrzehntelang repräsentierte der Österreichische Kreis Mexikos (Circulo Austriaco de
Mexico), den Robert Kolb bis zu seinem Tod geleitet hatte, den einzigen und wichtigsten Kern
gesellschaftlicher Aktivitäten und kultureller Verbreitung der österreichischen Gemeinschaft.
Selbstverständlich schloß dies auch eine Anzahl von Konzerten, Vorträgen, Filmvorführungen
und sogar Theatervorstellungen in sich ein. Alle diese Aktivitäten waren aber traditionell nicht
für ein breites Publikum gedacht und wurden auch nicht mit Offenheit aufgenommen.
Diese Sichtweise der österreichischen Gemeinschaft als geschlossener Kreis oder als ein —
bis zu einem bestimmten Grad- Geheimverband hat in gewisser Weise als Inspiration zu einem
der besten mexikanischen Romane der letzten zwanzig Jahre gedient, nämlich des Romans „El
desfile del amor (Die Liebesparade)‘“ von Sergio Pitol (1984 erschienen).
Der Protagonist dieses Romans, Miguel del Solar, ist das alter ego von Egon Erwin
Kisch, dessen Name im Roman sogar erwähnt wird. Tatsächlich kam Pitol — er war von
1982 bis 1986 Botschafter in der Tschechoslowakei — die Idee für dieses Buch, als er sich
in Prag eine Ausstellung ansah, die dem ‚‚Rasenden Reporter“ gewidmet war. Dort konnte
man Photos betrachten, auf denen die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft und somit
die Mannigfaltigkeit der Gemeinschaften zu sehen waren, aus denen sich die mitteleuro¬
päische Gesellschaft des ersten Viertels des 20. Jahrhunderst zusammensetzte. Angesichts
dieser Vielfalt von unterschiedlichen Personen erfand Pitol ein Szenario im Mexiko des
Jahres 1942, sowie eine Anzahl von Charakteren, welche die Immigranten, Exilierten und
politischen Vertreter Europas repräsentierten, die während des II. Weltkriegs noch Mexiko
gelangt waren.
Die Romanvorlage - der nie aufgeklärte Mord am österreichischen Staatsbürger Erich Maria
Pistauer — braucht zur Entwicklung der Handlung eine Person zur Aufklärung des rätselhaften
Verbrechens. Diese Person, Miguel del Solar, ist ein Historiker, der in England wohnt und 1982
nach Mexiko zurückkehrt. Hier will er ein Buch über die Vorfälle schreiben, die sich vierzig
Jahre vorher ereignet haben. Wie auch schon Kisch, macht del Solar eine ganze Reihe von
„Entdeckungen in Mexiko“ , indem er Interviews mit den Personen durchführt, die jene Tage
miterlebt haben: mit der Eigentümerin in einer Kunstgalerie, einer geschwätzige Tochter einer
deutschen Romanistin, einem alten Rechtspropagandist.
Wie im Theaterstück ‚‚Der Reigen“ von Arthur Schnitzler - eines jener Autoren, die Pitol
am meisten beeinflußt haben - erscheinen die Charaktere getrennt, in verschiedenen „Bildern“,
jeder erläutert seine Version der Geschichte, es kommt zu Verwicklungen und schließlich zu
einem überraschenden Ende.
Auf den Seiten von Liebesparade vollzieht sich die beste Identifikation mit einer anderen
Kultur, die man sich vorstellen kann; man findet hier die größte Hommage an die österreichi¬
sche Literatur und die schönste Würdigung des Gedenkens an die Exilösterreicher in Mexiko:
Einer von Österreichs legendären Schriftstellern wurde zum Protagonisten eines mexikani¬
schen Romans.
undurchdringliche Mauer des Schwei¬
gens: ,,Man sprach nicht von den Toten“,
was aber die tagtägliche Präsenz der er¬
mordeten Familienmitglieder nur ver¬
stärkt. Und auch Peter Katz kann erst
Jahrzehnte später das Schweigen bre¬
chen. Er sammelt Fakten, liest über die
Geschichte der europäischen Juden, der
Wiener Juden und beschließt seinen
„mexikanischen“ Kindern und Enkeln
zu berichten. In „Lej, Lejä. Destino de
una familia judia — das Schicksal einer
Jüdischen Familie“ erzählt Peter Katz ne¬
ben seiner eigenen Geschichte und dem
mühevoll rekonstruierten Schicksal sei¬
ner Familie auch von Leben und Verfol¬
gung der europäischen Juden, sorgsam
dokumentiert für eine ferne, lateinameri¬
kanische Leserschaft, um nichts weniger
aufschlußreich für den europäischen,