Friedrich Katz im Gespräch
MdZ: Es geht uns im Zusammenhang mit dem
Exilland Mexiko nicht nur darum, österreichi¬
sche Exilkultur und Persönlichkeiten des öster¬
reichischen oder auch deutschsprachigen Exils
in Mexiko zu schildern, sondern auch darum,
die historischen, sozialen, politischen Voraus¬
setzungen des Exils in Mexiko und der interna¬
tionalen Position, die Mexiko einnahm, zu erör¬
tern. Nicht zu vernachlässigen ist auch der Ge¬
sichtspunkt, daß für Mexiko das Exil aus dem
von Hitler beherrschten Raum quantitativ nicht
so bedeutsam war — im Verhältnis zum spa¬
nisch-republikanischen Exil, etwa 40.000
Flüchtlinge sind ja aus Spanien nach Mexiko
gekommen, und die Immigration spanischer
Eliten wurde in Mexiko auch ein wenig geför¬
dert.
F.K.: Die 30er Jahre in Lateinamerika waren
im allgemeinen Jahre, in denen in den meisten
Staaten Lateinamerikas eine starke Rechtsent¬
wicklung stattfand. Aufgrund der Wirtschafts¬
krise kam es zu sozialen Spannungen. Und in
vielen lateinamerikanischen Ländern kamen
halbfaschistische, profaschistische Diktatoren
an die Macht — Vargas in Brasilien hatte u.a. ein
Abkommen mit der Gestapo zur Auslieferung
politischer Flüchtlinge unterzeichnet. Ein
Rechtsregime in Argentinien, geführt von ar¬
gentinischen Militärs, zerstörte dort die Demo¬
kratie. In den meisten Ländern Lateinamerikas
zeichnete sich eine ähnliche Entwicklung ab.
Zwei Lander bildeten hier eine Ausnahme: Chi¬
le, wo sich eine Volksfront herausgebildet hat¬
te, und — vor allem - Mexiko, wo statt einer
Rechtsentwicklung eine Linksentwicklung
stattfand. Diese Linksentwicklung Mexikos
hing eng zusammen mit der bewaffneten Re¬
volution, die in Mexiko 1910 - 1920 stattfand
und die Diktatur eines Militärs, Porfirio Diaz,
der 36 Jahre lang im Land geherrscht hatte,
zerstörte. Aber die Revolution richtete sich
nicht nur gegen den Diktator, sondern auch
gegen jene Schichten, die in anderen Staaten
Lateinamerikas die Grundlage der Militärdik¬
taturen bildeten, die Großgrundbesitzer. In den
Jahren 1910 bis 1920 fand in den verschieden¬
sten Teilen des Landes eine Volksbewegung
statt. Die stärksten davon waren die südlichen
Revolutionäre unter der Leitung von Emiliano
Zapata und die nördlichen, geführt von Pancho
Villa. In einem blutigen Bürgerkrieg wurden
sie zwar geschlagen, aber unterminierten so
stark den Einfluß der dominierenden
Großgrundbesitzer, daß in den darauffolgen¬
den Jahren die mexikanische postrevolutionäre
Regierung gezwungen war — wenn auch zö¬
gernd —, die Macht der Großgrundbesitzer
durch Bodenreform zu beseitigen. Diese Ent¬
wicklung hörte auf zögernd zu sein, als 1934
eine sehr stark nach links orientierte Regierung
unter Lazaro Cardenas die Macht übernahm.
Die Cärdenas-Regierung entstand u.a. als Re¬
aktion auf die Krise, genauso wie die Rechtsre¬
gierungen in Lateinamerika, aber ihre Lösung
der Krise war nicht die Niederschlagung der
Bauernbewegung, sondern im Gegenteil die
weitestgehende Agrarreform, die Lateinameri¬
ka bis dahin gesehen hatte. Sechs bis sieben
Millionen Bauern erhielten Boden - die Mehr¬
heit des Bodens wurde an Bauern verteilt -und
gleichzeitig fand eine Reihe von Sozialrefor¬
men statt. Zum ersten Mal wurde für Arbeiter
eine Sozialversicherung eingeführt. In ideolo¬
gischer Hinsicht kehrte man zu den Wurzeln
der mexikanischen Kultur zurück, vor allem zur
Hervorhebung ihres indianischen Ursprungs.
Das hatte schon vorher begonnen, in den 20er
Jahren, aber Diego Rivera, Frida Kahlo, Jose
Clemente Orozco und David Alfero Siqueiros,
die „‚muralistas“, wurden nun von der Regie¬
rung sehr gefördert. Eine enorme Bildungsre¬
form, vor allem eine Alphabetisierungskam¬
pagne, fand statt, Lehrer wurden in die entle¬
gensten Dörfer geschickt. Gleichzeitig orien¬
tierte sich die Außenpolitik in zwei Richtungen:
Gerade weil Cärdenas so stark gegen konser¬
vative Kräfte kämpfte und weitgehend isoliert
war im Rest von Lateinamerika, fand er im
republikanischen Spanien das Land, für das er
die größte Sympathie hegte, da es seiner Mei¬
nung nach mit ähnlichen Problemen wie Mexi¬
ko konfrontiert war. Cärdenas setzte von An¬
fang an alles daran, den spanischen Republika¬
nern zu helfen. Die Unterstützung Hitler¬
deutschlands und Italiens für Franco war ein
entscheidender Faktor, wenn auch nicht der
einzige, der Cärdenas zu einer immer größeren
Opposition gegen Hitler, gegen die Nazis und
gegen den italienischen Faschismus und natür¬
lich auch gegen Franco und die Falange führte.
Dies erklärt auch die widerspruchsvolle Hal¬
tung der Vereinigten Staaten zu Cärdenas. Auf
der einen Seite ging er schärfer als irgendeine
lateinamerikanische Regierung gegen US¬
amerikanisches Eigentum in Mexiko vor. Als
amerikanische Erdölgesellschaften sich wei¬
gerten, einem Erkenntnis des obersten Gerichts
Mexikos zuzustimmen, das eine Gehaltserhö¬
hung für Erdölarbeiter verlangte, wurden die
amerikanischen Ölgesellschaften verstaatlicht.
Das war im März 1938. Eine solche Aktion
seitens eines lateinamerikanischen Staates hätte
im allgemeinen, hätte sie nach 1945 bzw. vor
1934 stattgefunden, zu ungeheuer heftigen Re¬
aktionen der USA geführt. Das war allerdings
nicht der Fall im Jahre 1938, weil die USA
immer mehr konfrontiert waren mit der wach¬
senden Macht Hitlers und in Mexiko eines der
wenigen Länder sahen, die die Opposition der
Vereinigten Staaten gegen Hitler-Deutschland
teilten. Hinzu kam, daß Roosevelt selber in
Opposition zu amerikanischen Ölgesellschaf¬
ten stand. So konnte Cärdenas in gewisser Hin¬
sicht die Quadratur des Kreises vollbringen und
eine scharfe antiamerikanische Politik betrei¬
ben, die keine wirkliche Opposition seitens der
USA erregte. Er hatte zwar nicht mit den USA,
aber mit den Ölgesellschaften zu rechnen, die
zu einem Boykott gegen Mexiko aufriefen, und
Cärdenas konnte das Erdöl, das er enteignet
hatte, nirgends verkaufen. Die einzigen Länder,
die sich bereit erklärten, Erdöl von Mexiko zu
kaufen, waren Japan, Deutschland und Italien.
So befand sich Cärdenas in der widerspruchs¬
vollen Situation, daß er einerseits einer der
schärfsten Opponenten Hitlers war, anderer¬
seits gezwungen war, das Erdöl an die Achsen¬
mächte zu verkaufen, damit das Land nicht
bankrott ging.
Deutschland versuchte dementsprechend,
Druck auf Mexiko auszuüben. Dies mißlang
jedoch, denn obwohl Cärdenas bereit war, Erd¬
ölan Deutschland zu verkaufen, richtete er sich
gleichzeitig bewußt gegen die Politik Hitler¬
Deutschlands. Das äußerte sich u.a. darin, daß
Mexiko das einzige Land war, das gegen den
„Anschluß“ Österreichs protestierte. Das ist
um so bemerkenswerter, als dieser Protest im
gleichen Monat stattfand, in dem Cärdenas das
Erdöl verstaatlichte und damit die mögliche
Gegnerschaft der USA auf sich zog. Hitlers
Gesandter in Mexiko versuchte in den darauf¬
folgenden Monaten, die vermeintliche wirt¬
schaftliche Abhängigkeit Mexikos von
Deutschland auszunutzen: Nach einem Protest
mexikanischer Gewerkschaften gegen die Ver¬
folgung von Juden in der „Kristallnacht“ ging
der Botschafter zum mexikanischen Außenmi¬
nister und gab ihm zu verstehen, daß die Ver¬
käufe mexikanischen Erdöls an Deutschland
darunter leiden könnten. Die Reaktion von Cär¬
denas war eindeutig: Kurz danach fand eine der
größten Kundgebungen Mexikos gegen die Ju¬
denverfolgung statt. Das ist der Hintergrund,
vor dem man die Flüchtlingspolitik Cärdenas
betrachten muß. In erster Linie richtete sich
seine Sympathie auf die Spanische Republik.
Und nachdem Hunderttausende spanische
Flüchtlinge nach dem Sieg Francos über die
Grenze nach Frankreich geflohen waren, wo sie
in Lagern interniert wurden, öffnete Mexiko
seine Tore und sicherte jedem Spanier, der es
wollte, nicht nur das Recht zu, nach Mexiko
auszuwandern, sondern stellte sogar Schiffe zur
Verfügung. Den Flüchtlingen wurden Arbeits¬
möglichkeiten und Hilfe zugesichert, obwohl
Mexiko selbstein armes Land war. Gleichzeitig
wurde ein großes Institut geschaffen, Casa de
Espafia, heute Colegio de México, eines der
bedeutendsten Forschungsinstitute fiir spani¬
sche Intellektuelle. Deutsche und österreichi¬
sche Emigranten, die in irgendeiner Form mit
der Spanischen Republik liiert waren, erhielten
dementsprechend auch Visas, um nach Mexiko
zu gelangen. Das war die Grundlage für die
Ankunft zumindest eines Teils der mitteleuro¬
päischen Exilanten in Mexiko.
MdZ: Darf ich einen Schritt zurückgehen? In
der Revolution der Jahre 1910-1920 sind doch
die Probleme der verschiedenen und sehr be¬