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„Die Angst kam erst danach“ ¬
Jüdische Frauen im Widerstand
1939-1945

Als sich im Frühjahr 1944 die Compagnie Ma¬
rat, die erste bewaffnete Einheit in Marseille
formiert, ist die zweiundzwanzigjährige Helene
Taich eine von vier Gründungsmitgliedern. In
Bessarabien aufgewachsen, besuchte sie dort
das Gymnasium, wurde wegen politischer Agi¬
tation gegen die Nazis ins Gefängnis gesteckt,
flüchtete anschließend nach Spanien und lande¬
te schließlich in Marseille. Als Führungsmit¬
glied in der Compagnie Marat schreibt und
verteilt sie Flugblätter, organisiert Frauengrup¬
pen in der jüdischen Sektion der MOI, der
Immigrantenorganisation der KPF, arbeitet in
der Flüchtlingshilfe, agitiert unter den jüdi¬
schen Immigrantinnen und fordert sie auf, ihre
Kinder zu verstecken, transportiert Sprengstoff
und nimmt an bewaffneten Aktionen teil.
Frauen wie Helene Taich sind keine Ausnahme;
sowohl in West- als auch in Osteuropabeteilig¬
ten sich jüdische Frauen am Widerstand und
setzten sich gegen die nationalsozialistischen
Besatzer zur Wehr. Ihre Aufgabenbereiche wa¬
ren so.vielfältig, wie die politischen Formatio¬
nen in denen sie kämpften. Sie organisierten die
Rettung von Kindern, übernahmen Kurierdien¬
ste, fälschten Papiere, stellten die Logistik be¬
reit oder ,,liquidierten “ Gestapospitzel. Frauen
waren aktiv in jüdischen Kampforganisationen
wie der Armee Juive in Frankreich, gründeten
Selbsthilfeorganisationen wie in Belgien, oder
kämpften in Kommunistischen Parteien, in zio¬
nistischen Jugendorganisationen oder in den
polnischen Ghettos.

Ihre bislang weitgehend unbekannte Geschich¬
te, die Geschichte des weiblichen jüdischen
Widerstandes hat Ingrid Strobl nun in einer
vergleichenden Studie mit dem Titel „Die
Angst kam erst danach “ zum ersten Mal umfas¬
send dokumentiert. Seit vielen Jahren schon
beschäftigt sich die Autorin mit dem Thema
Nationalsozialismus; so erschien 1989 „Sag
nie, du gehst den letzten Weg“, eine Publika¬
tion über den bewaffneten Widerstand von
Frauen während der deutschen Besatzung, die
sich durch Nähe und Intensität auszeichnet und
im Untersuchungsgefängnis in München-Neu¬
deck geschrieben wurde. 1994 folgte dann die
polemische Sammlung „Das Feld des Verges¬
sens“ und schließlich 1995 die Recherche
„Annaund das Anderle“, einer der raren (lite¬
rarischen) selbstreflexiven Arbeiten über den
Antisemitismus in Österreich und der Linken.
Im Unterschied zu ihren vorhergehenden Publi¬
kationen tritt Ingrid Strobl aber in ,,Die Angst
kam erst danach“ als erzählendes Subjekt weit¬
gehend in den Hintergrund.

In der Erforschung des Nationalsozialismus
führte die Geschichte des jüdischen Widerstan¬
des lange Zeit hindurch ein Schattendasein,
wurde verschwiegen oder weitgehend igno¬
riert. Die verschiedenen autobiographischen
Berichte, etwa die kostbaren Aufzeichnungen
aus den polnischen Ghettos, die unmittelbar
nach der Befreiung von jüdischen Frauen und

Männer verfaßt worden waren, sind von der
etablierten Historiographie kaum zur Kenntnis
genommen worden. Jahre später, im Zuge des
Eichmannprozesses, wurde der jüdische Wi¬
derstand geleugnet, gipfelnd in dem ungeheu¬
erlichen Vorwurf, sie, die Ermordeten seien wie
die Lämmer zur Schlachtbank gegangen. „Ich
habe versucht“, schreibt Ingrid Strobl, die sich
der Gefahr des Ausspielens der „aktiven“ Wi¬
derständler gegen die „passiven“ Opfer bewu¬
ßt ist, „deutlich zu machen, daß nicht die Tat¬
sache erstaunlich ist, daß die Masse der Men¬
schen sich nicht gewehrt hat, sondern umge¬
kehıt die Tatsache, daß es einer angesichts der
Umstände beachtlichen Zahl von Frauen und
Männern gelingen konnte, Widerstand zu lei¬
sten.“

Erst zu Beginn der siebziger- bzw. Anfang der
achtziger Jahre erschienen die ersten bedeuten¬
den Arbeiten von Historikern, die sich systema¬
tisch mit der Erforschung des jüdischen Wider¬
standes auseinandersetzen. Doch was die be¬
sondere Rolle und Bedeutung der Beteiligung
von Frauen betrifft, so ist sie selbst in diesen
neueren Arbeiten marginal. Das hat nicht nur
damit zu tun, daß Frauen ihren eigenen Anteil
am Widerstand bis heute oft herunterspielen
und als selbstverständlich darstellen: es ist vor
allem auch ein Problem der Definition, weil in
der Geschichtsschreibung der Widerstand zu¬
meist rein militärisch definiert wird, hatten dar¬
in in erster Linie die bewaffneten Kämpfer,
nicht aber die Frauen, die beispielsweise Kinder
versteckten, ihren gebührenden Platz. Ihnen
wurde zumeist die Rolle der „Sanitäterin“ oder
der ,,Koffertrigerin“ zugeschoben. Der ehe¬
maligen Widerstandskämpferin Jeanne List¬
Pakin ist die Empörung über die Herabsetzung
ihrer Geschlechtsgenossinnen deutlich anzu¬
merken, wenn sie schreibt: „War es denn ver¬
dienstvoller eine Salve abzufeuern, als einen
Verletzten zu Hilfe zu kommen und ihm das
Leben zu retten? ... War es denn weniger ge¬
fährlich, eine Bombe im Einkaufsbeutel zum
Anschlagsort zu tragen? Wieviele Frauen, die
das gemacht haben und die dafür in Deutsch¬
land enthauptet wurden, haben dafürdie Ehren¬
legion erhalten?

An Hand umfangreichen Materials — Ingrid
Strobl hat schriftliche Berichte, Tagebücher,
Briefe und Dokumente gesammelt und ausge¬
wertet und darüberhinaus mit über 50 ehemali¬
gen Widerstandskämpferinnen aus ganz Euro¬
pa ausführliche Interviews geführt — wird der
quantitative und qualitative Beitrag jüdischer
Frauen am organisierten Widerstand darge¬
stellt; untersucht werden aber auch die ver¬
schiedenen Aufgabenbereiche dieser Frauen,
ihre Funktionen und ihre diversen „Karrieren“.
Neben Belgien, den Niederlanden und Ungarn
liegt der Schwerpunkt der Untersuchung aber
vor allem auf Frankreich und Polen; kämpften
im Rahmen der französischen Resistance Jü¬
dinnen und Juden nicht nurin den unterschied¬
lichsten Organisationen, waren in Frankreich
die Formen des Widerstandes außerordentlich
vielfältig und reichten vom Kinderhilfswerk bis
zum bewaffneten Kampf, so stellte Polen das
Zentrum des organisierten jüdischen Wider¬

stands in Europa dar. Nicht nur war, hier die
jüdische Bevölkerung zahlenmäßig am grö߬
ten, hier waren die Menschen auch viel.unmit¬
telbarer mit der nationalsozialistischen Ver¬
nichtungspolitik konfrontiert. Sie kämpften
buchstäblich im Angesicht der brennenden
Öfen von Auschwitz und Treblinka, und’ent¬
schieden, wie viele sagten, nur die: Art:ides
Todes selbst. Auch deshalb war hier der Anteil
der Frauen, die oft Führungspositionen innehat¬
ten, nahezu gleich hoch wie der ihrer nn
chen Gefährten. uw
Im Unterschied zu Polen bestand das Gros der
jüdischen Widerstandskämpferinnen in West¬
europa aus Immigrantinnen (in Frankreich und
Belgien waren es gar 90%!) ~ unter ihnen viele,
die vor den Nazis und dem allgegenwärtigen
Antisemitismus auf der Flucht waren. Sozial
und rechtlich an den Rand der Gesellschaft
gedrängt, hatten sie, zumal im Krieg, ohnehin
nichts mehr zu verlieren. Sie, die nirgends hin¬
gehörten, denen selbst die Aufnahme in eine
offizielle Armee versagt war, kämpften selten
aus - patriotischen: ' Beweggründen, : sondern
wehrten sich in allererster Linie gegen die deut¬
schen Besatzer, die, wie sie bald bemerkten,
auch einen Krieg gegen die Juden führten:
Besonders interessant und spannend ist auch
der zweite Teil des Buches: Zum ersten Mal
wird hier der Versuch unternommen, die sub¬
jektive Seite, die ganz persönliche Geschichte
dieser vielen Heldinnen, die in der Regel kaum
älter als zwanzig Jahre waren, darzustellen. Die
Autorin fragt nach ihrer sozialen Herkunft, ih¬
rer Familie und Erziehung, ihrer Stellung zum
Judentum, ihrer politischen Motivation, ihren
Gefühlen, dem Überleben im Untergrund und
der alltäglichen Angst, verhaftet, gefoltert, ver¬
schleppt und ermordet zu werden. Aus einer
Distanz von nahezu sechzig Jahren berichten
ehemalige Widerstandskämpferinnen 'von' ih¬
ren ganz konkreten Ängsten und Schwächen
aber auch von ihrer Unerschrockenheit und ih¬
rem Haß auf ihre Peiniger. Nicht nur die unter¬
schiedlichen Lebensläufe sind erstaunlich, son¬
dern ebenso die vielfältigen Motivationen, sich
dem Widerstand anzuschließen: ‚,... Nachträg¬
lich“, sagte Catherine Varlin, ehemalige Kom¬
mandantin einer kommunistischen Wider¬
standsgruppe, „‚hat man gerne eine politische
Logik fabriziert. Aber vorher waren die Gründe
fürden Beitritt zu einer Widerstandsbewegung,
denke ich, weitgehend eine Reaktion des Tem¬
peraments, eine Mischung aus der Erniedii¬
gung, die man als Jude erleben mußte, dem
Willen zu überleben und der politischen Erzie¬
hung, die uns davon überzeugt hat, daß wir für
das Gute kämpfen. Diese Mischung bestand
nicht nur aus guten Anteilen, aber das war es,
was die Komplexität der Sache ausmachte. Un¬
sere Motive entsprangen sicher nicht ausgewo¬
genen Gefühlen, die vorher entsprechend einer
politischen Linie fabriziert wurden.“

Renate Göllner

Ingrid Strobl: Die Angst kam erst danach. Jü¬
dische Frauen im Widerstand 1939-1945.
Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 1998. 478
5. ÖS 204,-/DM 28,-.

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