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Am nächsten Tag, dem 15. Oktober, begann
der Kongreß im Hotel Stein, das die Veran¬
stalter seiner besonderen Atmosphäre wegen
(hier pflegte etwa Joseph Roth abzusteigen)
als Tagungsort gewählt hatten. Im Eröff¬
nungsreferat des wissenschaftlichen Teiles
belegte Klaus Zelewitz den sprunghaften An¬
stieg des Interesses an Zweig seit 1992 vor al¬
lem mit bibliographischen Hinweisen zu
neuen Werkausgaben besonders in Überset¬
zungen (so wird etwa demnächst eine chine¬
sische Gesamtausgabe abgeschlossen sein),
Briefeditionen, Zweig-Biographien und mit
Informationen zu Zweig-Verfilmungen,
Theater- und Hörspielproduktionen, Opern
usf. Die Forschung in den USA nimmt ab, in
Brasilien und Chile hingegen deutlich zu.
Die meiste Beschäftigung mit Zweig im
fremdsprachigen Ausland gibt es in Frank¬
reich, gefolgt — wer hätte hier die richtige
Antwort gewußt? - von der Türkei; an dritter
Stelle dann Italien. Abschließend teilte Zel¬
ewitz einiges zur Geschichte von Zweigs
Haus auf dem Kapuzinerberg und zum Um¬
gang Salzburgs mit ihm mit, was sich so zu¬
sammenfassen ließe: Der hier nach dem
März 1938 seines Eigentums Beraubte und
von hier Vertriebene galt noch lange - d. h.,
lange nach 1945 — in Salzburg als persona
non grata, so als ob ihm die Beraubung und
Vertreibung nicht verziehen hatte werden
können...

Das zweite Referat, verfaßt von Klemens Re¬
noldner (Bern/Wien), verlesen vom zweiten
wissenschaftlichen Leiter des Kongresses,
Hildemar Holl (Salzburg), behandelte die im
Anschluß an Ulrich Weinzierls Anthologie
von Stimmen zu Stefan Zweig entstandene
Kontroverse über die „Pflichten der Antifa¬
schisten“ anhand der gegensätzlichen Posi¬
tionen von Volker Michels und Frithjof
Trapp. Dabei konstatierte Renoldner ein
mehr oder minder starkes Vorbeireden beider
an der Person Zweigs und forderte ein Heran¬
gehen an diesen — ohne Forderung an den Au¬
tor, wie er zu sein habe, und ohne die Gewi߬
heit, daß je über ihn die ganze biographische
Wahrheit zu haben wäre.

Der zweite Themenkreis war „Stefan Zweig
und dem Film“ gewidmet und der dritte „Ste¬
fan Zweig als Briefeschreiber und Briefe¬
sammler“. Hier erwies sich das Referat des
jungen Germanisten Oliver Matuschek
(Braunschweig) mit dem Titel „Ich kenne
den Zauber der Schrift‘/Stefan Zweig als Au¬
tographensammler“ als eine der großen
Überraschungen des Kongresses. Der Refe¬
rent konnte überzeugend darlegen, daß und
in welch großem Ausmaß Zweigs autogra¬
phensammlerische Tätigkeit, an deren lü¬
ckenloser Rekonstruktion Matuschek arbei¬
tet, als integraler Bestandteil seines Werkes
zu betrachten ist. Für eine ähnliche Betrach¬
tungsweise plädierte auch Jeffrey Berlin
(Langhorne) in seinem Vortrag über und im
Hinblick auf die mannigfachen gescheiterten
Zeitschriften- und sonstigen Projekte
Zweigs. Abschließend wurde noch in zwei
Referaten, die den 4. Themenkreis, „Stefan

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Zweig in der Welt des Ostens“, einleiteten,
über die Zweig-Rezeption im südslawischen
Raum und in Polen, Litauen und der Ukraine,
wo er überall zu den meistübersetzten und
-gelesenen deutschsprachigen Autoren ge¬
hört, berichtet.

Am zweiten Kongreßtag berichtete Mark
Gelber (Beersheva) über verschiedene he¬
bräische Stefan-Zweig-Übersetzungen und
analysierte dann näher die etwa 1940 entstan¬
dene Übersetzung der Erzählung „Der begra¬
bene Leuchter“ („ha-menorah ha-genusah“),
die als Ausdruck einer Hinwendung Zweigs
zum Zionismus gedeutet worden war. Gelber
zeigte, wie stark die Übersetzung den Origi¬
naltext bearbeitet, und daß diese Bearbeitung
eindeutig ideologisch motiviert war. Alles,
was dem zionistischen Ideal vom neuen sä¬
kularen jüdischen Menschen zuwiderlief,
wurde in der hebräischen Übersetzung weg¬
gelassen. Einerseits betrifft das Passagen, die
etwa die Ängstlichkeit von Juden als Aus¬
druck ihrer Leiden beschreiben; andererseits
wurde der Erzählung auch viel vom religi¬
ös-traditionellen Ton genommen: Das Ge¬
betbuch, Gebet usf. kommen nicht vor.
Gennadi Kagan (St. Petersburg/Wien) be¬
richtete über das Schicksal der Zweig-Über¬
setzungen und -Rezeption in der Sowjet¬
union und im postkommunistischen Ru߬
land. In der Sowjetunion schien das Problem
nicht so sehr in der ideologisch motivierten
Bearbeitung der Texte zu liegen, sondern
eher darin, daß gewisse Bücher — etwa „Ma¬
rie Antoinette“ oder „Die Welt von gestern“
- erst gar nicht veröffentlicht und die geneh¬
migten Zweig-Ausgaben mit Einleitungen
versehen wurden, die, abgesehen davon, daß
niemals Zweigs Judentum erwähnt wurde,
entweder Anleitungen gaben, wie Zweig
marxistisch zu deuten sei, oder zu distanzier¬
ter Lesehaltung aufforderten, weil der Autor
ein dekadenter, kleinbürgerlicher Subjekti¬
vist, Psychologisierer und Freudianer sei,
den seine Naivität nur zu oberflächlicher Be¬
trachtung der Gesellschaft befähige. Trotz¬
dem hatte Zweig, „diese krankhaft-grelle
Blume der Dekadenz“, wie eine Charakteri¬
sierung lautete, in Rußland immer eine große
Leserschaft, was Kagan auf die starke Affini¬
tät zur „russischen Seele“ (Stichworte: Welt¬
trauer, leben aus dem Gefühl, Glücksspiel...)
und Zweigs Rezeption der russischen Lite¬
ratur (Dostojewski, Tolstoi etc.) zurück¬
führte.

Schließlich vermittelte Ren Guo-Quiang (Pe¬
king) einen guten Eindruck der „Zweig-Re¬
zeption in China“, die seit etwa 20 Jahren in
einem ständigen Wachsen begriffen ist. Das
ganze Werk liegt übersetzt vor und erreicht
gigantische Auflagen. Von manchen Bü¬
chern gibt es bis zu sieben Übersetzungen.
Zweig wird von den Lesern in China, wo er
besonders als Novellist bekannt ist, vor allen
anderen deutschsprachigen Schriftstellern
aus inhaltlichen Gründen (Dichte, Dramatik,
spannender Handlungsaufbau, Zuwendung
zum individuellen Leben und zur Problema¬
tik der menschlichen Existenz) und wegen

seiner klaren, anschaulichen Sprache - alles
Dinge, denen auch in der chinesischen Lite¬
ratur ein hoher Stellenwert eingeräumt wird —
geschätzt.

Der letzte Themenkreis war der „Welt von
gestern“ gewidmet. Nach Referaten über die
italienischen und französischen Übersetzun¬
gen und das Schicksal der „Welt von gestern“
in der UdSSR teilte George F. Sperber (Säo
Paulo) seine Untersuchungen der brasiliani¬
schen und der zwei spanischen Übersetzun¬
gen (aus Spanien und Argentinien) und damit
weitere Fälle von Entstellungen aus poli¬
tisch-ideologischen und moralischen Moti¬
ven mit. Überall gravierende Kürzungen: In
den beiden spanischen Übersetzungen, die
gewiß unabhängig voneinander entstanden
sind, fehlt etwa das ganze Kapitel „Eros Ma¬
tutinus“, da es als unzüchtig und daher dem
Leser nicht zumutbar angesehen wurde. Pas¬
sagen, in denen Zweig zum spanischen Bür¬
gerkrieg Stellung nahm, wurden weggelas¬
sen oder verdreht. Besonders niederträchtig
ist, daß alles, was sich in dem Buch auf Juden
bezieht, so übersetzt wurde, daß es eine anti¬
semitische Tönung bekam!

Der letzte Vortrag, „Die Welt von gestern —
eine sozial- und kulturhistorische Analyse
aus heutiger Sicht“ von Georg Schmid
(Crock), war ein sensibel gestaltetes, ein¬
drucksvolles Bekenntnis zu Zweigs Erinne¬
rungen. Das Werk sei viel mehr als nur eine
Art Soziographie einer bestimmten Epoche.
Es helfe uns auch bei der Deutung der eige¬
nen. Von der bisweilen zu vernehmenden
Behauptung der Inaktualität könne keine Re¬
de sein; und obwohl manches in der „Welt
von gestern“ poetisch übertrieben wirken
mag, so haben wir es doch im Grunde mit ei¬
nem sachlichen, kühlen und desillusionierten
Buch zu tun, in dem das Nachtrauern zwar
mit Wehmut, aber ohne Weinerlichkeit ge¬
schieht.

Der letzte Akt im Hotel Stein bestand darin,
daß die Kongreßteilnehmer dazu aufgefor¬
dert wurden, die Gründungsversammlung
der Internationalen Stefan-Zweig-Gesell¬
schaft mit Sitz in Salzburg zu bilden und Vor¬
stand und wissenschaftlichen Beirat zu wäh¬
len. — Somit besteht nun dieser Verein seit
dem 16. Oktober 1998 und wird sicherlich
noch vieles dazu beitragen, seinen Zweck zu
erfüllen: „die Beschäftigung mit Leben,
Werk und Umfeld des Schriftstellers Stefan
Zweig in nationalem und internationalem
Rahmen zu fördern“.

Zum Abschluß noch eine Anregung: Am
Kongreß nahmen auch zwei Lehrer der Ste¬
fan-Zweig-Realschule in der deutschen Stadt
Endingen (Baden-Württemberg) teil. Eine
kleine Ausstellung vor dem Tagungsraum
zeigte u.a. Ansichten dieses Instituts, wo Zi¬
tate Zweigs die Wände zieren, Lehrer und
Schüler sich seine Geisteswelt zu erschließen
bemühen und das Andenken dieses Humani¬
sten also auf sehr lebendige Weise erhalten
wird. — In Salzburg und sonstwo in Oster¬
reich sucht man vergeblich nach einer Ste¬
fan-Zweig-Schule.