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Konstantin Kaiser

„Was aber bewirkte diesen
barocken Triumph des Todes
und der Erstarrung?“

Ich rede hier als einer mit, der seit der Kindheit Gedichte
schreibt. Mit dem Gedicht ist man ja ziemlich hilflos vor die
Dinge gestellt; es fällt schwer, sie in eine Sphäre der Verwand¬
lung zu ziehen, sie einer Handlung. zu unterwerfen. Man ist ge¬
zwungen, sich in und zwischen die Dinge und Wörter hinein¬
zuzwängen und hineinzudenken, andere, sich den starren Al¬
ternativen entziehende Möglichkeiten und noch undefinierte
Schichtungen zu entdecken. Mit anderen Worten: Im Gedicht
sind dem literarischen Geschick und der sprachlichen Erfin¬
dungsgabe enge Grenzen gesetzt, durch den historisch-kultu¬
rellen Ort, an den der Gedichte Schreibende gebunden ist wie
Prometheus an seinen Felsen. Unsere Geschichte hat viele
ausgeprägte Würgemale, die allen Versuchen, sie glattzuho¬
bein, widerstehen, sagte Franz Kain. Der Vorteil des Gedichts
liegt vielleicht darin, daß es diese Grenzen und Würgemale
nicht überfliegt, sondern in prägnanter Form als Bedingungen
und offene Forderungen markiert und damit zwar nicht han¬
delt, aber doch einen Horizont des Handelns aufstößt. Das Ge¬
dicht verspricht dann keine beliebige Entfaltung von Lebens¬
möglichkeiten, aber eine Entfaltung stellt es immerhin in
Aussicht.

Wir waren tot und konnten atmen, schrieb Paul Celan, und
dieses Gefühl einer ausgesetzten Erstarrung stand irgendwann
in den 1960er Jahren am Anfang meines erwachsenen Schrei¬
bens. In Wirklichkeit war alles umgekehrt: Das Tote wucherte
groß, und das Lebendige atmete mühsam. Was aber bewirkte
diesen barocken Triumph des Todes und der Erstarrung?

So habe ich erst langsam begriffen, daß die Greuel des Na¬
tionalsozialismus, die meinem eigenen Leben nur knapp vor¬
auslagen, auch die rasch zusammengepappte Normalität, in
der ich aufgewachsen war, durchwachsen und durchformt hat¬
ten, und daß es meine Aufgabe war, das schwarze Loch der
Sinn- und Zusammenhangslosigkeit, das sich zwischen dem
schrecklich Vergangenen und dem zukunftsgewiß Gegenwär¬
tigen aufgetan hatte, einzureißen, mit Zusammenhang, Erinne¬
rung, Wissen zu füllen, wenn es sein mußte, mit mir selbst.
Dieses schwarze Loch ist in Wahrheit das unbeschreiblich
Häßliche, das ein Claude Lanzman im Disput mit den Hervor¬
bringungen eines Stephen Spielberg ins Treffen führt. Nicht
Frederick Brainins Kahlenberg von Kinderschuhen, der zuerst
in Majdanek entdeckt wurde, nicht Theodor Kramers Ofen von
Lublin sind das Nicht-Darstellbare, sondern dieses schwarze
Loch, die durch künstliche Distanzierung, durch das resignier¬
te oder verschmitzte Akzeptieren der Ergebnisse der national¬
sozialistischen Herrschaft geschaffene Kluft zwischen dem
‚jetzt‘ und dem ‚einst‘.

Häßlich ist nur die Kluft, schrieb ich daher in einem meiner
neueren Gedichte. Und eine Kluft ist das, was der lebendige
Atem, die sinngebende Bewegung, der durchblutende Puls
nicht überwindet, wo er stehen bleiben muß: natura non fecit
saltus, die Natur macht keine Sprünge, aber die menschliche
Sozietät muß Sprünge machen, Sprünge über Klüfte, und beim
Schreiben kommt es natürlich darauf an, ob man springt (mit
der Gefahr des Sturzes und ohne Hoffnung, die Kluft aus der

Konstantin Kaiser

Anna Mitgutsch