OCR
doch zu dieser Zeit noch an der Auswanderung respektive Vertreibung „jüdischer Reichsangehöriger“ interessiert. Der J-Stempel war bei diesem Unternehmen hemmend, und zwar nicht nur für die Auswanderung in die Schweiz, sondern auch in andere Länder. Vom 27. bis 29. September weilte Rothmund auf Veranlassung von Bundesrat Giuseppe Motta, Chef des Politischen Departements, in Berlin. „Um der Schweiz soweit als möglich entgegenzukommen“, einigte man sich dort mit dem deutschen Partner, die jüdischen Pässe zu kennzeichnen. Diese Massnahme wurde schliesslich am 4. Oktober 1938 vom Bundesrat gutgeheissen und trat am 10. November in Kraft. Danach hätten auch Schweizer Jüdinnen und Juden ein „J“ in den Pass gestempelt bekommen können, da auch hier die nach Völkerrecht übliche Reziprozität bestand; in der Praxis geschah dies aber nie. Als Kainszeichen konnte das „J“ in der Schweiz jedoch auf eine längere Tradition zurückblicken. Schon 1914 wurden Einbürgerungsakten von Ostjuden mit einem handschriftlichen „J“ versehen — für sie galten auch längere Einbürgerungsfristen. Ebenso wurde 1936 auch den Akten der Fremdenpolizei der J-Stempel aufgedriickt. Um die Eindimensionalität des HistorischChronologischen zu lockern, hat Kreis die Auswirkungen der konkreten Einreise- und Visumspraxis anhand von Einzelschicksalen schlaglichtartig dokumentiert. Sie heben sich in erschütternder Weise vom zeit- und rezeptionsgeschichtlichen Teil des Buches ab, der wegen seiner dichten Stoffülle bei der Lektüre grössere Aufmerksamkeit abverlangt. Die Sprache ist bisweilen bewusst oder unbewusst polemisch gehalten. Dies versteht sich jedoch aus der Sache. Kreis schreibt sein Buch als Richtigstellung, als Entgegnung gegen einen unverantwortbaren national-patriotischen Revisionismus. Bei diesem Unternehmen schiesst er zum Teil auch über das Ziel hinaus, dann nämlich, wenn er auf Seite 121 aus der Studie der österreichischen Historikerin Claudia Hoerschelmann die Darstellung der Rezeption des J-Stempels auseinanderreisst und sie dadurch fahrlässig und diffamierend mit den Revisionisten in Verbindung bringt. Es handelt sich nicht um eine Kontroverse unter gelehrten Häuptern, sondern um den Kampf gegen das Entfachen einer nationalkonservativen Abwehrhaltung von selbsternannten „Patrioten“, welche die Schweiz als moralischen „Sonderfall“ hinstellen. In diesem Sinne ist das Buch von Kreis eine Streitschrift, in dem er sein Anliegen mit Herzblut und Vehemenz vertritt. An die Adresse der Leugner der schweizerischen Mitverantwortung richtet er klare Worte: „Man drängte die NS-Behörden zur Einführung einer bestimmten Regelung und will damit nichts zu tun haben.“ Kreis zeichnet ein differenziertes Bild über Schuld und Verantwortung. Die Entlastung Rothmunds als ,,Alleintater“ darf jedoch nicht zum Trugschluss verleiten, die Weste der Schweiz rein waschen. Die Akten legen nur allzu deutlich Zeugnis von der Mitverantwortung des Gesamtbundesrates, im besonderen der Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements und des Politischen Departements (Aussenministerium) sowie der Gesandtschaft in Berlin ab. Jenen, welche die Devise in dubio pro patria vertreten, sind zwei Punkte zu entgegnen. Erstens: „Die Schweiz wird allen revisionistischen Bemühungen zum Trotz den J-Stempel nicht los, er gehört zu ihrer Vergangenheit.“ Und zweitens: Das Bekenntnis, das Bundesrat Kaspar Villiger am 7. Mai 1995 folgendermassen formuliert hatte: „Mit der Einführung des Judenstempels kam Deutschland einem Anliegen der Schweiz entgegen.“, ist historisch nicht nur richtig, sondern politisch ebenso wichtig! Zsolt Keller Georg Kreis: Die Rückkehr des J-Stempels. Zur Geschichte einer schwierigen Vergangenheitsbewältigung. Zürich: Chronos-Verlag 2000. 210 S. Im Kampf um die richtige Deutung der Dinge SaSka Innerwinkler ist eine 1977 in Villach geborene Kärntnerin, die in Klagenfurt Germanistik studiert und wieder angefangen hat, Slowenisch, die Sprache ihrer Großmutter, zu erlernen. Ihre Gedichte schreibt sie auf Deutsch, bei der Übersetzung ins Slowenische hat ihr Janko Messner geholfen. Sie schreibt Liebesgedichte und politische Gedichte. Ich zitiere aus einem Liebesgedicht: Der Herbstwind hat uns wie bunte Blätter vom Baum geschüttelt. Jetzt liegen wir nebeneinander, dürfen uns berühren, umarmen. Störend ist dabei die Metapher in der Metapher. Wenn der Herbstwind die Blätter vom Baum schüttelt, schüttelt er sie nicht wie bunte Blätter vom Baum. Das Schöne an der Stelle ist die Rede vom Einander-Gegebensein. Die Stelle ließe sich noch bearbeiten. Ich würde auch „bunte Blätter“ und „grausige Hexentänze“ (an anderer Stelle) vermeiden. Viele Gedichte gehen auf den „Grölaz“, „den Größtenlandeshauptmannallerzeiten“ und auf die bekannten österreichischen Befindlichkeiten. („Eine typisch österreichische Seele/ hat von allem etwas/ und gehört doch nirgends dazu,/ der Wandelbarkeit wegen.“) Erfrischend ist der Zorn Innerwinklers, ihr deklarierter Antifaschismus, die Unbefangenheit, mit der sie Stellung nimmt. Ich folge ihrem Kampf um die richtige Deutung der Dinge mit Interesse und Sympathie (das ist eine Qualität ihrer Arbeiten). Aber die Probleme, die mit dem Schreiben politisch engagierter Gedichte verbunden sind, bleiben in ihren Versen offenkundig. „Wer die politisch engagierte Österreichische Literatur der Gegenwart kennt und außerdem mit den Gebräuchen des Fußballspiels vertraut ist, wird das folgende Bild vermutlich verstehen: Sie, die engagierte Literatur, verhält sich gewöhnlich wie ein Verteidiger, der zwar richtig an seinem Platz steht, aber immer in ordentlichem Abstand zu dem Stürmer, den er eigentlich decken sollte.“ So schrieb ich in einem Nachwort zu Herbert Kuhners „Minki die Nazi Katze und die menschliche Seite“. Ein politisches Gedicht dient nicht der Abgrenzung und moralischen Selbstverwahrung des oder der Schreibenden, sondern geht darauf aus, Gleichgesinnte zu finden und ihnen ein Bündnis anzubieten. Politisch ist nicht das Bekenntnis, sondern der Zusammenschluß. D.h., die Gegenwart und Abwesenheit der anderen, der möglichen Freundinnen und Freunde muß spürbar, in den Vers eingeschrieben sein, nicht nur die Gegenwart des politischen Gegners oder einer verächtlichen Gesinnung. (Diese Verbündeten müssen nicht hier und jetzt da sein, aber gesucht werden müssen sie.) Darüber ist schon viel geschrieben worden, und was ich hier sage, klingt nicht sehr literarisch. Aber es läßt sich mit einem Aufwand, der in diesem Zusammenhang zu groß ist, sehr wohl in eine ästhetische Reflexion umwandeln. Bald klingt doch alles zu streng. Wer sich zu sehr zusammenreißt, muss sich später wieder zusammenflicken lassen — schreibt SaSka Innerwinkler mit Recht. Es sind eine ganze Reihe guter oder im Ansatz guter Gedichte in ihrem Band, so „Für meine Mutter“, in welchem gegenüberstellt wird, wie die Mutter ihr alterndes Gesicht ansieht, und was die Tochter ihrerseits aus den Zügen der Mutter liest. Konstantin Kaiser Saska Innerwinkler: Heimatlieder und andere Bosheiten/Domovinske pesmi in druge zbadljivke. (Deutsch/Slowenisch.) Klagenfurt/Celovec: Verlag Norea 2000. 109 S. Die deutsche Sprache in Israel Am 27.6. 2000 präsentierte Anne Betten die Ergebnisse ihres langjährigen Forschungsprojektes „Emigranten-Deutsch in Israel“ am Institut für Germanistik der Universität Salzburg. Sie liegen in Form des von ihr zusammen mit Miryam Du-Nour unter Mitarbeit von Monika Dannerer herausgegebenen Buches „Sprachbewahrung nach der Emigration. Das Deutsch der zwanziger Jahre in Israel“ (Verlag Niemeyer, Tübingen) und einer CD (Tonträger) vor. Evelyn Adunka bereitet übrigens eine IsraelSchwerpunktnummer von ZW vor. 79