OCR
ne Versuche, die Menschen wachzurütteln, fehlgeschlagen sind, daß jene nichts wissen wollen von dem millionenfachen Mord, macht sich Erschöpfung breit. Frankenthal, der ein kaputtes Knie und ein steifes Bein hat und mit 30 Jahren bereits einen vollständige Zahnprothese tragen muß, heiratet, möchte seine Ruhe haben, ein ganz normales Leben führen; er wird gern gesehenes Mitglied im Schmallenberger Schützen- und Gesangsverein, eröffnet eine Metzgerei und fährt, wie einst der Vater, mit dem alten Ford als Viehhändler übers Land. Die Vergangenheit ist indessen tabu, auch unter den wenigen Überlebenden wird nicht darüber geredet, und selbst, wenn seine Kinder die Frage nach der eingebrannten Nummer auf seinem Arm stellen, murmelt er nur etwas von einer wichtigen Telefonnummer. „Vielleicht“, so schreibt Frankenthal, hätten nach 1945 Psychiater jenen, die aus dem Lager kamen, „raten sollen, keine Kinder in die Welt zu setzen, denn wir haben unseren Kindern keine Liebe geben können“. Der Auschwitz-Prozeß, der 1963 in Frankfurt eröffnet wurde, bildet schließlich ein Zäsur in Frankenthals Leben. Als Zeuge vorgeladen, erkennt er einige seiner Peiniger, erkennt auch jenen Mann, der ihn aus dem Krankenbau jagte, als er seinen Bruder, todkrank und von der Selektion bedroht, davor warnte, weiterhin in der Baracke zu bleiben. In Träumen kehrt das Verdrängte wieder, quälende, aufwühlende Fragen bringen ihn Nacht für Nacht um den Schlaf. In Rundfunk und Fernsehen wird über ihn und über den Prozeß berichtet, und Frankenthal ist froh, daß das Schweigen endlich gebrochen ist. Plötzlich wird er auch von seinen Bekannten angesprochen: „Ich euch was erzählen? Damit ihr morgen wieder sagt, ihr glaubt es nicht. Es gibt reichlich Literatur darüber, besorgt sie euch“, lautete die lapidare Antwort Frankenthals. Damals beginnt Frankenthal sich intensiv mit Auschwitz zu beschäftigen, liest jedes Buch, jede Broschüre, alles was ihm in die Hände fällt. Noch einmal beginnt eine äußerst kämpferische Phase in Frankenthals Leben. Er, der wieder religiöser Jude geworden war, sorgt dafür, daß in Schmallenberg endlich ein Gedenkstein für die ermordeten Juden der Stadt aufgestellt wird, fährt in Schulen und diskutiert dort mit Jugendlichen über die deutschen Verbrechen. Als stellvertretender Vorsitzender des Auschwitz-Komitees betritt er gemeinsam mit anderen ehemaligen Häftlingen 1988, nach fast 50 Jahren, wieder den Boden von Auschwitz, kämpft für die Erhaltung der Gedenkstätte, insbesondere des Geländes von Mittelbau-Dora wo sich der unterirdische Stollen befand, und versucht darüber hinaus die Entschädigung für Zwangsarbeiter durchzusetzen. Entsetzt über die Walser-Debatte, sorgt er dafür, immer so viel Bargeld zu Hause zu haben, um sich jederzeit ein Flugticket nach Israel kaufen zu können. Als 1997 Hans Frankenthals Bruder stirbt, 82 ohne eine Entschädigung erhalten zu haben, ist er verzweifelt. Er sagte damals, daß er noch vergleichsweise jung sei und hoffe, zu den letzten fünf überlebenden Zwangsarbeitern des Nazi-Regimes zu gehören. Er nahm sich vor nicht eher zu sterben, als die Entschädigungsansprüche durchgesetzt wären. Fünf Tage nach der „Einigung“ darüber, am 22. Dezember 1999, starb Hans Frankenthal, der letzte Schmallenberger Jude, im Alter von 73 Jahren. Renate Göllner Hans Frankenthal: Verweigerte Rückkehr. Erfahrungen nach dem Judenmord. Unter Mitarbeit von Andreas Plake, Babette Oinkert und Florian Schmaltz. Frankfurt: Fischer Tachenbuch 1999. DM 18.90 Saul Friedländers „Das Dritte Reich und die Juden“ So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn. Adolf Hitler, „Mein Kampf“ Saul Friedländer, der als Jugendlicher die Shoah überlebte, hat selbstverständlich auch aus „persönlicher Betroffenheit“ (S. 11) eine große Beschreibung der Vernichtung des europäischen Judentums vorgelegt. Erst die ersten beiden Teile dieses monumentalen Werks sind auf Deutsch erschienen: Die Titel dieser beiden Abschnitte verweisen darauf, daß Friedländer in ihnen der Frage der Entwicklung des modernen Antisemitismus und der Entstehung des staatlichen Instrumentariums zur Entrechtung, Beraubung und Vertreibung der Juden aus „Großdeutschland“ nachgeht: „Ein Anfang [des Rasseantisemitismus] und ein Ende [der jüdischen Assimilation]“ und „Die Einkreisung“ (Ich habe mir erlaubt, den ersten Titel durch Ergänzungen zu interpretieren): Das erste Kapitel des ersten Teiles demonstriert die Arbeitsweise Friedländers: Er beginnt mit der Einengung der Lebensbedingungen von jüdischen Künstlern unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, beschreibt dann die Reaktionen jüdischer Organisationen und Persönlichkeiten auf dieselbe — sie waren im wesentlichen abwartend und beruhigend, analysiert die erste Verfolgungswelle, die sich vor allem gegen die Arbeiterbewegung gerichtet hat, um dann Programmatik und erste Aktionen des nationalsozialistischen Antisemitismus darzustellen. Diese Methodik, in verschiedenen Personengruppen sowohl Produktion als auch Auswirkungen des Rassismus zu beschreiben, hält Friedländer im vorliegenden Band seines opus magnum durch. Im zweiten Kapitel „Einverstandene Eliten, bedrohte Eliten“ analysiert er das Verhalten der Kirchen, der Universitäten, der Wissenschafter und Studenten, sowie der führenden jüdischen Schichten nach dem Machtantritt des Nationalsozialismus hinsichtlich der Anpassung an die und der Zurückweisung der antisemitischen Formierung des gesellschaftlichen Klimas. Im dritten Kapitel „Der Erlösungsantisemitismus“ formuliert Friedlander seine erste zentrale These, indem er aus der Zeitebene 1933 zurückblendet und die historischen Entwicklungsbedingungen der jüdischen Minderheit in Europa und der antisemitischen Denk- und Politikansätze zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschreibt. In der Modernisierungskrise gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten Verschwörungstheorien Hochkonjunktur, in denen Juden ins Zentrum paranoischer Universen gestellt wurden. Mit der Niederlage und traumatischen Katastrophe des Ersten Weltkrieges und der parallel geschichtsmächtig werdenden „Roten Gefahr“ gewinnt eine ungeheure Sehnsucht nach „Erlösung“ Bedeutung in der rechten Politik Mitteleuropas. Der Kampf für die „Erlösung“ der eigenen Nation und die Ausrottung der „Jüdischen Gefahr“ — also der „Erlösungsantisemitismus“ — gewinnt in der jungen nationalsozialistischen Partei unter Hitler neue Qualität: Hitler spitzte seine rassistischen Kategorien in einem andauerndem Kampf zwischen Gut und Böse apokalyptisch zu: Die Gefahr der Verdamnis durch einen von Juden verursachten Untergang schwebte für ihn über der „arischen Rasse“ und der Gedanke einer Erlösung durch den totalen Sieg über die Juden wurde nicht nur imaginiert. In Hitler koexistierten für Friedländer kalte Berechnung, blinde Wut und ideologischer Fanatismus, wobei dieser Fanatismus und eine pragmatische Berechnung bei Hitlers Entscheidungen ständig in Wechselwirkung zueinander standen. (S. 127) Hitler kalkulierte sehr genau die nationale und internationale Opportunität von antijüdischen Maßnahmen, ohne das Ziel seines „erlösenden“ Antisemitismus — dieser “ Synthese aus einer mörderischen Wut und einem ‚idealistischen‘ Ziel“ (S. 13) — je aus den Augen zu verlieren. Für Friedländer war das Vernichtungswerk ohne die führende Rolle Hitlers in ihm nicht möglich, aber er legt „besonderen Nachdruck auf die Interaktion zwischen Hitler, seinen ideologischen Motivationen und den Zwängen des Systems, in dem er agierte“. (Anm. 7, 8. 362) Friedländer ging nicht in die Falle des Schulstreits zwischen dem „funktionalistischen“ und dem „intentionalistischen“ Ansatz in der Forschungsgeschichte zur Genese der Shoah, und er grenzte sein Theorem vom „Erlösungsantisemitismus“, der von den Nazis mit Gewalt und Tücke in den mitteleuropäischen Gesellschaften durchgesetzt werden mußte, vom „eliminatorischen Antisemitismus“ Daniel Jonah Goldhagens ab, weil dieser den deutschen Antisemitismus beinahe zur Nationaleigenschaft erklärt und ihn von der Vernichtung her gedeutet hatte. In den Kapiteln „Das neue Ghetto“ und „Der