sieht man in diese Augen hinein. Ihre Hände streichen das
Kleid übers Knie. Wortlos zieht er den Schemel zurück.
„Ich bin alt“, sagt der Bauer, „und die Holzfällerarbeit ist
schwer. Einen Tag braucht man, die Sträucher umzuschlagen
und das Holz zu spalten. Am nächsten Tag macht man sich früh
auf den Weg in die Stadt. Hinunter den Berg, die Schlucht,
durch den Fluß. Man verkauft die doppelte Schulterladung.
Abends kommt man zurück mit einem Säckchen voll Salz oder
einem Viertelpfund Speck. Meine Arme schmerzen. Ich bin
nicht mehr jung.“
Später erzählt die Bäuerin, wie sie die Kinder verlor. Das er¬
ste, ein Mädchen, holte der Wolf. Das nächste war ein Junge; er
bekam Fieber im Winter, als er sieben Jahre alt war, fieberte zwei
Wochen und starb. Dann kam wieder ein Junge und er blieb ih¬
nen länger erhalten als alle andern. Im zweiten Kriegsjahr, als er
zwölf Jahre alt war, holte man ihn zum Militär. Drei Monate spä¬
ter erlag er der roten Ruhr im Rekrutenlager von Loyang. Die
zwei letzten Kinder waren wieder Mädchen, Zwillinge, und sie
starben gleich nach der Geburt unter Krämpfen.
„Wer wird den Alten das Ahnentäfelchen aufstellen?“, sagt
die fremde Dame und ein nervöses Mitleid verkrampft ihr das
Herz. Ihre Schultern zucken. „Ist Ihnen kalt?“, fragt der Herr be¬
sorgt. Er gießt den hellen, duftenden Tee in die irdenen Schalen.
Aus der fremden Maske brechen die vertrauten Züge hervor.
Oberhalb der Kaolinbrüche gibt es ein Bambuswäldchen, ein
kostbares, feiertägliches Stück Grün in dem baumarmen Land.
... Abends im Mondenschein
mit meiner Flöte
sitz ich im Bambushain ...
Hier halten die Touristen nochmals Rast, bevor sie den breite¬
ren Weg ins Ih-Tal einschlagen. Die sieben Gipfel, wie sieben
verweisende Finger, ziehen sich in die Wolken zurück.
„Das Schlimmste“, sagt die junge Frau, „ist, einsam zu sein in
fremdem Land.“ „Noch schlimmer“, sagt der Mann, „ist es, kei¬
ne Kinder zu haben. Das Sprichwort sagt: Jedes Wasser hat
Quelle und Mündung, jeder Baum hat Wurzeln und Frucht ...“
„Ein Kind braucht ein Heim“, sagt die Dame, fast böse.
„Wissen Sie das nicht? Außerdem glaube ich nicht an
Ahnenkult. Und von mir aus kann das Abendland überhaupt
aussterben.“ Das soll scherzhaft sein, aber es klingt tragisch,
und der Mann mit den sanften Zügen sieht, daß sie weint. Er
zögert, bevor er ihre Hand nimmt, und dann liegt ihre feuchte
Wange an seiner, die gelb ist und glatt wie Elfenbein.
Die Bauernfrau hinter den sieben Gipfeln hat den Abend¬
Hirsebrei fertig gekocht. Nun füllt sie den Kessel mit Wasser
vom Bach und stellt ihn über den Herd. Aus den irdenen Scha¬
len, aus denen die Fremden getrunken haben, nimmt sie sorg¬
fältig die aufgeweichten grünbraunen Blätter und brüht sie
nochmals auf für sich und den Mann. Tee! Yünnantee! Der be¬
ste Tee Chinas!
Das war damals, als wir Flüchtlinge in China waren und als
Transportleute Anstellung gefunden hatten — in Maujang, dem
„Arschloch der Welt“, in jenem Herbst, als die Autos unter den
Strohschuppen verwitterten, weil’s kein Benzin mehr gab, als
der Regen immer tiefere Löcher in unsere Lehmbude fraß und
die Deutschen mit Siebenmeilenstiefeln gegen Moskau drangen.
Jeden Sonntag Nachmittag marschierten wir, frisch gewichst und
rasiert, die acht Kilometer zur Villa Tschü am Fluß. Mir war
Fräulein Rose zugewiesen, ein plattnasiges Dickchen mit hellem
Haar und dunklem Teint, das meine Komplimente blasiert entge¬
gennahm, als wäre sie die Huldigungen hunderter blonder Arier
gewohnt. Hans, das Schwein, hatte natürlich Maria Tschü für sich
reserviert und machte ihr - trotz seiner krummen Nase und seiner
verhatschten Schuhe — mit dem größten Erfolg den Hof. Sie war
ein niedliches, blondes Frauchen, frisch, appetitlich, sehr gut er¬
halten und blitzdumm. Manchmal konnte sich ihr Blick ver¬
schleiern; dann träumte sie von ihrer Thüringer Heimat. Besonders
eine Art Schlackwurst, die es dort gibt und die sie 17 Jahre nicht
mehr gekostet hatte, versetzte sie in die wehmütigste Stimmung
der Welt, und ihre hübschen blauen Augen füllten sich mit Tränen.
Rose, die noch niemals Schlackwurst gesehen hatte, wußte nicht
recht, wie sie sich dazu verhalten sollte, und sagte vorwurfsvoll:
„Aber Mama!“
Übrigens steckten beide Frauen in ihrem Rassestolz wie in
einem Fischbeinkorsett. Zutiefst gekränkt, wenn ein
Volksdeutscher der Rasseschänderin und dem Mischling die
Hand verweigerte, waren sie ganz toll vor Freude, zwei echt¬
farbene Weiße bei sich zu sehen, denen ihre gebratenen Enten
und Kartoffelpuffer nicht zu schlecht waren, und ihr
Spatzengehirn faßte nicht mal den Schatten eines Verdachts ge¬
gen Hansens düstere Physiognomie.
Herrn Tschü bekamen wir selten zu sehen. Er war ein hohes
Tier in Tschungking und kam nur alle paar Wochen nach
Hause, sein Blondchen zu umarmen und eine Portion Enten¬
braten zu essen. Seine Frau schob ihn auch gleich wieder ab.
Eines Sonntags war es noch langweiliger als gewöhnlich bei
Tschüs. Nach dem Kaffee saßen wir bei einer Kartenpartie,
endlich erschien die gebratene Ente, und dann kam einer von
uns auf den Einfall, Eierlikör zu brauen. Sie wissen doch, wie
man Eierlikör macht? Man schlägt Eigelb mit Zucker zusam¬
men und chinesischen Branntwein dazu — diesen weißen Wein,