Der Berg mit den sieben Gipfeln
Tschi Li san, der Berg mit den sieben Gipfeln, liegt im Fu Niu
Gebirge südlich von Loyang.
Ungefähr auf halber Höhe entspringen zwei Quellen. Weiter
unten, wo die Kaolinbrüche sind und wo die Ziegen an den nack¬
ten Hängen kleben, vereinigen sich die beiden, und noch eine
Meile weiter mündet der Bach in einen Nebenfluß des Hoang
Ho, den Ilh, der im Winter so seicht ist, daß man von Stein zu
Stein springen kann, und der nach den Sommerregen anschwillt
wie ein böses Tier und mit einem Ruck seiner braunen Schultern
die Brücke sprengt, die man im Frühjahr gebaut hat.
Die Holzfäller vom Berg halten mit ihrer Last am Ufer an,
streifen die weiten Hosen hoch und stemmen sich durch die
Flut. Abends kann man die Leute wieder zurückwandern se¬
hen, einzeln oder in Gruppen, mit leichten Bambusstangen, an
denen ein Säckchen Salz baumelt, ein Viertelpfund Speck oder
eine neugeschliffene Haue.
„Hart ist das Leben auf dem Berg. Diesen Winter haben wir
nichts gegessen als dreimal im Tag ungesalzene Mehlsuppe
und das wilde Gemüse, das am Rande der Schlucht wächst.“
Der Bauer, der das sagt, ist keiner der Ärmsten. ER hat ein
Haus, zwei Ochsen, Feld, Pflug und einen Granatapfelbaum
hinten am Bach. Aber das Jahr, von dem er spricht, ist das Jahr
der großen Dürre gewesen, da die Halme leere Ähren trugen
und hunderttausend Menschen im Land zugrunde gingen.
Der Herr und die Dame, mit denen er spricht, sind Professoren
an der Hochschule von Loyang, und sie sind im Berghof bei
der Quelle eingekehrt, weil sie durstig sind nach der langen
Sonntagstour. Der Herr hat Tee mitgebracht, Yünnantee, den
besten Tee Chinas, und er geht selbst in die Küche, die
Zubereitung zu überwachen.
Wer steigt schon auf diesen Berg, der seine sieben Gipfel wie
düstere Finger in den Himmel reckt? Landstreicher, Holzfäller,
Räuber und Narren. Die fremde, weißhäutige Frau, die ein
Flüchtling von jenseits des Ozeans ist; der Mann mit dem bern¬
steinfarbenen, sanften Gesicht. Weil sie sich’s in den Kopf ge¬
setzt - und weil er verrückt ist. Fünf bernsteingelbe Kinder
warten auf den Vater in Loyang. Und überm Meer einer, der
weiß ist und dessen Namen sie trägt.
An der Lehmwand der einzigen Stube ist ein lackierter Tisch.
Dreizehn beschriebene Ahnentäfelchen stehen darauf, dreizehn
Generationen lebten in diesem Haus.
Die Bäuerin bringt irdene Schalen für Tee. Die Frau ist alt,
ihre Lippen sind hart und schmal. Und nun fällt es dem Fremden
auf, daß in diesem Haus keine Kinder sind.
Der Herr rückt den Schemel näher zum Stuhl seiner Be¬
gleiterin. Ihr Knie unter dem kurzen Kleid glänzt weiß. Sein
Gesicht kommt sehr nahe, und es ist der Frau, als ob sie es zum
ersten Mal sähe. Und die sanft vertrauten Züge wandeln sich
plötzlich, werden zur Maske, unheimlich, unergründbar fern.
Und sie denkt, er ist wirklich gelb, und die Augen, niemals