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MIP ist die Abkürzung für Mlädez pro Interkulturni Poro¬
zumenii (Jugend für interkulturelle Verständigung). Der
Vorsitzende heißt Ondrej Liska und ist Student der Politologie
an der Masaryk-Universität. Die Gruppe hat, wie mir Liska er¬
zählte, im Rahmen eines deutsch-tschechischen Workcamps an
der. Rekonstruktion des devastierten jüdischen und deutschen
Friedhofs im südmährischen Jirice (Irritz) gearbeitet und dort
auch Diskussionen mit geladenen Gästen wie Milan Uhde,
Achab Haidler u.a. über jüdische Kultur, Religion und ihre
Bedeutung für die tschechische Gesellschaft geführt.

Von einem unter dem Titel „Podejme si ruce“ (Reichen wir
uns die Hände) in der Tageszeitung Lidové noviny am 21.4.
2000 veröffentlichten Interview waren wir beide sehr beein¬
druckt. Und zwar handelte es sich um das inzwischen im ge¬
samten deutschen Sprachraum bekanntgewordene, von
Versöhnlichkeit geprägte Gespräch mit dem heute in Karlsruhe
lebenden gebürtigen Brünner Rudolf Hawiger, der das durch
Jahrzehnte bei uns tabuisierte Thema des „Brünner Todesmar¬
sches“ ins Rollen brachte: bereits nach knappen vier Wochen
veranstaltete die MIP eine Gedenkfeier anläßlich des 55. Jahres¬
tages des Brünner Todesmarsches und forderte den Magistrat
auf, sich für jene wilde Austreibung zu entschuldigen. Zwei Tage
später wurde von der Stadt eine elfköpfige Untersuchungs¬
kommission eingesetzt, in die auch ich berufen wurde.

Ein weiteres Projekt von MIP war die in der Mährischen
Galerie vom 26. April bis 20. Mai 2001 gezeigte Ausstellung
oben zitierte Ausstellung. Sie soll aufzeigen, daß Brünn in sei¬
nem ganzen Wesen eine ethnisch und kulturell sehr vielfältige
Stadt ist. Neben einer slawischen Bevölkerung ließen sich
Kolonisten aus deutschen Ländern, Flandern und von anders¬
wo nieder. Auch Juden, die jedoch unter dem Luxemburger
Ladislaus Posthumus aus der Stadt gewiesen wurden und sich
erst 400 Jahre später wieder uneingeschränkt niederlassen
durften. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts wäre es nieman¬
dem eingefallen, die Stadt einer einzigen ethnischen Gruppe
zuzuordnen. Dies brachte erst die moderne Auffassung von
Nationen als vorgegebener sich gegenseitig ausschließender
Lager mit sich. Ein einzigartiges, aus der Kombination sozia¬
ler und sprachlicher Zugehörigkeiten entstandenes Phänomen
ist die aus einem deutsch-tschechisch-jiddisch-romanischem
Gemisch bestehende „Hantec“, die Brünner Umgangssprache.

Mit dem mehr oder minder freundschaftlichen Mit- und
Nebeneinander der verschiedenen Brünner Ethien war es nach
dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1939 endgültig vorbei.
Dem sogenannten Holocaust fielen nahezu alle jüdischen
Mitbürger und Roma zum Opfer. Aber auch die tschechische
Bevölkerung war, namentlich während der Heydrichiade, schwe¬
ren, mit vielen Hinrichtungen verbundenen Verfolgungen ausge¬
setzt. Die nach Kriegsende einsetzende brutale Austreibung der
Deutschen im Zuge des berüchtigten Todesmarsches vollendete
die Homogenisierung Brünns. Die einstige ethnische Buntheit
fällt allmählich dem Vergessen anheim. Nur gelegentlich stößt
man auf Spuren wie deutschen Aufschriften auf Kanaldeckeln.

Auch heute ist jedoch die nationale Identität der Stadt noch
nicht eindeutig. Bekannte sich doch zu Beginn der neunziger
Jahre des vergangenen Jahrhunderts (also vor zehn Jahren), die

überwiegende Mehrheit der Brünner nicht zur tschechischen,
sondern zur mährischen Nationalität. Nach dem Krieg kam es
zu einem Zuzug von Roma aus der Ostslowakei. Seit den sieb¬
ziger Jahren bilden die Vietnamesen eine verhältnismäßig
große Gruppe. Weiters kommen in ungeahnter Menge Arbeits¬
suchende aus der Ukraine.

Die Ausstellung bemüht sich, zu einem besseren Ver¬
ständnis der hier lebenden Minderheiten beizutragen und das
Zusammengehörigkeitsgefühl in unserer Stadt zu wecken.

Reich bebilderte Schautafeln machen uns mit den einzelnen,
keineswegs jedoch sämtlichen in der Stadt lebenden nationalen
Minderheiten und Religionsgemeinschaften bekannt: In alpha¬
betischer Reihung von A bis Z, beginnend mit den Armeniern,
die infolge von Naturkatastrophen, politischen und kriegerischen
Ereignissen ihre Heimat verlassen hatten müssen, bis hin zu den
Juden (Zide), deren bis ins frühe Mittelalter zurückreichende
Gemeinde heute etwa 300 Mitglieder, darunter Emigranten aus
der Karpathoukraine, umfaßt. Viele Tafeln tragen Sprichwörter
oder Aussprüche der jeweiligen geistigen Vorsteher oder
Vorsitzenden:

Munheeb Hassan (Muslim): „In Brünn geht die Toleranz
von den Menschen aus. Wir finden hier gute Bedingungen für
unseren Glauben ...“

Roman Madecki (Pole): Ich stehe mit jedem Fuß in einer
anderen Kultur. Das bereichert mich und erweitert meinen
Horizont.“

Georgios Sideridis (Grieche): „Auch in Brünn ist es nicht
schwer, ein stolzer Grieche zu sein. Als Grieche bin ich gebo¬
ren, als Grieche werde ich sterben.“

Ein Roma-Sprichwort: „Glücklich der Mensch, der vor sich
einen offenen Weg hat.“

Peter Mayer (Jude): „Wie kann es mich schmerzen, daß
meine Kinder nicht mehr nach der jüdischen Tradition leben?
Auch ich halte mich eigentlich nicht mehr voll an sie. Wer von
uns kann, außer dem Oberkantor, hebräisch beten? Die Juden
in den böhmischen Ländern werden niemals mehr das sein,
was sie einmal waren.“

Und auf der Schautafel von uns Deutschen ist zu lesen: „Es
wäre für uns eine große Genugtuung, würde der Magistrat die
Vertreibung der Deutschen aus der Stadt verurteilen und ein
Bedauern aussprechen ...“

Einen Höhepunkt der Ausstellung bildete am 3. Mai ein bis
in die tiefen Nachtstunden währendes Fest. Im Hofe der Ga¬
lerie, wo einst bis zu Kaiser Josefs Zeiten fromme Augustiner¬
patres durch ihren Paradiesgarten wandelten, wechselten
Musik- und Tanzgruppen der Roma, Griechen und anderer ein¬
ander ab. Gleichzeitig wurden Kostproben slowakischer, jüdi¬
scher, bulgarischer, armenischer, ungarischer u.a. Spezialitäten
gereicht: Mazzes, das vietnamesische Nudelgericht Mi Sao
Nem, griechische Oliven, Feta und Tsatsiki, bulgarischer Bau¬
ernsalat ... Da die Sitzplätze nicht reichten, machte es sich die
Jugend auf ausgebreiteten Decken auf dem Steinpflaster be¬
quem. Dazwischen tollten hell- und dunkeläugige Kinder. Man
war, wie es sich schon in unseren vor Jahren im Begegnungs¬
zentrum begonnenen „Gesprächen gegen den Rassismus“ an¬
bahnte, eine große Familie.

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