Meine Eltern, Wilhelm und Grete Deman, vergaßen nie die
Ankunft in Shanghai am 15. Mai 1939. Neben ihrem Dampfer,
dem „Giulio Cesare“, lag ein deutscher Frachter aus Hamburg,
dessen Belegschaft sich bei ihrer Ankunft am Vorderdeck ver¬
sammelte. Bald erscholl aus kräftigen Männerkehlen in allen
Stimmlagen der uns so wohlbekannte Ruf: „Deutschland er¬
wache — Juda verrecke!“.'
Mein Vater, österreichischer Offizier im Ersten Weltkrieg
und einige Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft, war am
10. November 1938 auf der Straße verhaftet und nach Dachau
verschleppt worden. Das Übersetzungsbüro, das meine Eltern
neben ihrer Handelsagentur seit 1930 betrieben hatten, war am
gleichen Nachmittag von der Gestapo versiegelt worden. Wie
alle Flüchtlinge mußten meine Eltern mit zehn Reichsmark in
der Tasche aus Wien auswandern. Sie hatten jedoch Fremd¬
sprachenkenntnisse und den eisernen Willen, sich in Shanghai
durchzusetzen. Schon kurz nach ihrer Ankunft hielten sie
Englisch-Kurse im Kinchow Road Heim und im Alcock Heim
und schrieben Briefe für Emigranten.’
Die Emigrantenschule, im Volksmund Kadoorie-Schule ge¬
nannt, bestand bereits unter der Leitung von Lucie Hartwich,
und Horace Kadoorie plante für die reifere Schuljugend eine
Möglichkeit zu schaffen, sich für den zu erwartenden Lebens¬
kampf praktisch vorzubereiten. Er lud meine Eltern ein, bei
ihm vorzusprechen. Herr Kadoorie verlangte eine baldige
Durchführung seines Planes. Meine Eltern überreichten ihm in
Kiirze ein bis ins Detail vorbereitetes Exposé, das er mit we¬
nigen Anderungen akzeptierte.
Am Sonntag, dem 7. Januar 1940, fand in Anwesenheit von
zahlreichen Persönlichkeiten des jüdischen Lebens in Shanghai
und der Emigration die feierliche Eröffnung des S.J.Y.A.
(Shanghai Jewish Youth Association) Junior Club and
Vocational Training Center, unter Leitung meiner Eltern,
William und Grete (Margaret) Deman, statt. Obwohl im selben
Gebäude wie die Schule untergebracht, wurde das Center völ¬
lig unabhängig geführt.
Begeisterte Zeitungsartikel im Shanghai Herald, dem 8 Uhr
Abendblatt und der Gelben Post erwiesen, für wie wichtig die
Presse die Neugründung für die Emigranten hielt.” Mein Vater
betonte bei einem Interview, daß sich der Klub zur Aufgabe ge¬
macht hätte, „nicht nur die
körperliche und geistige
Entwicklung der Kinder zu
fördern, sondern auch deren
schlummernde Fähigkeiten
zu entwickeln“.* Er selbst
schrieb später: „Unsere
Emigrantenjugend war ver¬
wirrt, verwildert und rebel¬
lisch. Die Ereignisse der
unmittelbaren Vergangenheit
waren noch zu frisch im
Gedächtnis. Auch der krasse
Gegensatz zwischen dem
modernen, fast luxuriös ein¬
Wilhelm Deman gerichteten Klub und den
Foto: Sammlung Joan R. Deman trostlosen „Heimen“ und
„Lane“-Wohnungen mußte überbrückt werden. Die Ideale ei¬
ner verlorenen Kindheit und Jugend mußten durch eine Form
von Zusammengehörigkeit, Gruppendisziplin, Ehrbegriff und
dennoch selbständiges Denken ersetzt werden.‘®
Das Programm des Junior Club war weitreichend: Buch¬
binderei, Maniküre, Handarbeiten, Gymnastik, Modezeichnen,
Kochen, Backen, Französisch, Philatelie, Grundlagen der
Buchführung, Salon-Tanz und Anstandslehre, Zeichnen und
Malen, sowie Radiobau.° Die Back- und Kochkurse, die mei¬
ne Mutter lehrte, führten zu „Schau-Essen“ (Etiquette bei
Tisch), wo die Jugendlichen Tischmanieren lernten.” Der
Kontorkurs, von meinem Vater unterrichtet, führte zur
Errichtung der S.J.Y.A. Junior Club Sparbank, bedient und ge¬
führt von Jugendlichen.‘ Dr. Walter Dawison schrieb im
Shanghai Herald: „Unter der Leitung von Herrn und Frau
Professor Deman hatte sich der Junior Club im vergangenen
Schuljahr zu einem erstrangigen Erziehungsinstitut ent¬
wickelt.“ Weiters schrieb er, „es ist ein Grundprinzip moderner
Pädagogik, Wissen nicht durch Pauken und Büffeln einzu¬
trichtern, sondern mit Freude und Interesse zu vermitteln.“
Mein Vater verstand dieses Prinzip genau.
Am 19. Mai 1940 feierte ganz Hongkew den ersten Mut¬
tertag im Exil. Klub und Schule arbeiteten zusammen und be¬
reiteten für hunderte Mütter und geladene Gäste ein schönes
Programm vor. Der Wiener Tanzmeister Siegfried Erdstein stu¬
dierte Tänze ein, der Wiener Arzt Dr. Arnold Eberstark schrieb
ein Gedicht für die Veranstaltung — „Die Kinder danken“ —, als
Dank für Horace Kadoories großzügige Hilfe. Die englische
Version, „Thank You“, stammt von meiner Mutter. Am Nach¬
mittag fand eine große Muttertagsjause in neun bekannten
Lokalen statt, die Wiener Sängerin Lia Morgenstern, der
Illusionist Fred Fredden und der Akkordeonvirtuose Baum¬
garten sorgten unter der Leitung des Wieners Leo Plohn für die
Unterhaltung."
Von besonderer Bedeutung für die Jugendlichen war der
von meinem Vater eingeführte Kindergottesdienst, bei der
sämtliche religiöse Funktionen von den Jungen versehen wur¬
de." Dieser Gottesdienst fand solchen Anklang, daß Herr
Kadoorie jeden Freitag Ehrengäste nach Hongkew mitbrach¬
te.” Obwohl Klub und Schule, wie schon erwähnt, separat ge¬
führt wurden, wurden die Festlichkeiten gemeinsam eingeübt
und ausgeführt. Die große Purim-Feier, Die Geschichte der
Königin Esther, wurde von der Wienerin Franziska Eberstark
geschrieben und von meiner Mutter ins Englische übersetzt."
Das Programm mußte am nächsten Tag wiederholt werden, da
viele Leute dabeisein wollten.
Weitere Veranstaltungen folgten, sehr zur Begeisterung der
Emigranten. Im Mai 1941 fand die große Elternveranstaltung
statt, die von nahezu 2.000 Personen besucht wurde. Das
Publikum war so begeistert von der von meiner Mutter ins
Englische übertragenen und von Tanzmeister Erdstein einstu¬
dierter Szene aus dem „Dreimäderl-Haus“, daß die Szene wie¬
derholt werden mußte.'*
Im Herbst 1941 verlangten die chinesischen Schulbehörden
plötzlich das von Herrn Kadoorie gepachtete Gebäude zurück,
und die Shanghai Jewish Youth Association war gezwungen,
unter großen finanziellen Opfern einen Neubau in der East