Diese ersten Kurzinformationen führten mich (via Brief, Fax,
Telefon, Internet und e-mail) in die weite Welt hinaus:
a) nach Vancouver, wo mein ehemaliger Studienkollege
James Ilecic den Film Mr. Symbol Man sah und mir berichte¬
te, daß Bliss in Shanghai nicht nur eine eigene Schrift erfun¬
den, sondern auch Filme gedreht hatte;
b) nach Washington D.C., wo ich den Ex-Shanghailänder
Henry Compart kennenlernte, der beim „C.K.Bliss Film Ser¬
vice“, Shanghai, kurze Zeit als Lehrling gearbeitet hatte;
c) zu Peter Witting, Sohn von Annie Witting, in Canberra,
der die Filme von Bliss für das „National Film & Sound Ar¬
chive“ in Canberra transkribiert hatte;
d) zu Richard Ure in Sidney, dem heutigen Nachla߬
verwalter von Charles Bliss „Semantography Trust Fund“.
Für Joan Grossman und mich stellte sich bald heraus, daß die
Shanghaier Filmaufnahmen von Bliss für unseren Film von
großer Bedeutung sind: eindrucksvolle und gestochen scharfe
Aufnahmen vom Straßenleben in Shanghai zeigen Bilder, die
man so in der damals üblichen Wochenschauästhetik nicht zu
sehen bekam, z.B. Straßenszenen Shanghais: chinesische
Frauen und wie sie von Reissäcken herunterfallende Reis¬
körner fürs Abendessen zusammenkehren, dampfende
Straßenküchen mit nudelessenden Chinesen, vorbeieilende
Rikschakulis, vor sich hinvegetierende Straßenbettler sowie
Aufnahmen von wohlhabenden Ausländern und wie sie sich
auf dem städtischen Pferderennplatz amüsieren. Besonders
wichtig für uns waren die Filmaufnahmen über den Stadtteil
Hongkew, die Bliss zwischen 1940 und ’45 gedreht hat: auf der
Straße spazierende Emigranten, ihre Geschäfte und Wohn¬
quartiere; körnige Schwarzweiß-Aufnahmen von einer Emi¬
grantenbeerdigung im Ghetto von Hongkew; eine von den
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Programmheft zum Film „Children of the World“
Foto: Sammlung Walter Kolm Veltee, Sammlung Paul Rosdy
Japanern angeordnete Luftschutzübung unter der Aufsicht des
selbsternannten „Königs der Juden“, des japanischen Offiziers
Ghoya, sowie die spontanen Feiern der Shanghaier Bevöl¬
kerung am Ende des Krieges, im August 1945.
Dies, so stellte sich bald heraus, waren die Privataufnahmen
des Filmfanatikers Charles Bliss. Gelebt hat seine Firma C.K.
Bliss Film Service von Auftragsproduktionen wohlhabender in
Shanghai lebender Ausländer bzw. Firmen. In einem undatier¬
ten Brief aus dem Jahre 1940 berichtet er:
Yesterday the important conversation took place and it was a
full success. The Eastman Kodak Co. is ready to give me the
whole Film-Service for Film-Amateurs, which means a lot as
there are many requests from incoming tourists and members
of the Society to have their film spools titled, edited etc. The
Kodak Co. had not the right man at hand, who knows this job
and they will therefore gladly accept any incoming orders and
forward it to me ... The Kodak Co. agreed that my letter paper
should bear the sentence Film-Service for the Eastman Kodak
Co. and they have asked me for an estimate, as I made a very
interesting and unusual design and they are inclined to pay the
cost of my letter paper ... The manager of Kodak has the idea
that I should film the China Golf Championship which will take
place in Shanghai in two weeks. He will speak with the mem¬
bers of the Committee and I hope to get the job.'
Den Auftrag, die China Golf Championship zu filmen, hat
Bliss bekommen. Ob er den Film auch fertiggestellt hat, konn¬
te ich nicht mit Sicherheit feststellen, da Bliss damals zumeist
mit 8mm Umkehrfilm gearbeitet hat und der Originalschnitt oft
als fertiges Produkt beim Kunden landete. Im seinem Nachlaß
übriggeblieben sind die jeweiligen Filmreste (die Film¬
aufnahmen, die im fertigen Film nicht verwendet werden) sei¬
ner Auftragsproduktionen. Henry Compart, damals Lehrling
bei Bliss, erinnert sich in seinen unpublizierten Memoiren:
We would take clients’ amateur movies, and by cutting and
editing these films, transform them into something more inte¬
resting and bearable to watch. When the U.S. 4th Marines left
Shanghai just prior to the outbreak of the war, we were there
recording the event. Another memorable undertaking was the
filming of a Chinese opera in a theater on the top floor of the
Wing On Department Store, both on stage and behind the sce¬
nes. With Japans’ Pearl Harbour attack and the simultaneous
occupation of all of Shanghai by the Japanese, this job ended
abruptly on December 7, 1941. With Mr. Bliss’ Clientele, who
were mostly British and American, gone, his business ceased,
and he no longer needed or could afford any help.’
Nach den Filmresten zu schlieBen, drehte Bliss noch Filme
über die Polizeiabteilung der Shanghaier Stadtverwaltung, die
Shanghaier Feierlichkeiten anläßlich des Geburtstages der eng¬
lischen Königin 1941 und mehrere andere Kurzindustrie- und
Werbefilme: Werner Colm, damals Direktor einer amerikani¬
schen Reißverschlußfabrik in Shanghai, zeigte uns zum Bei¬
spiel einen fertigen 3-Minutenfilm, den Bliss in seinem
Auftrag produzierte.
Bliss’ wahre Leidenschaft und Berufung aber war die Erfin¬
dung einer neuen Schrift. Inspiriert durch das kosmopolitische
Sprachenkonglomerat Shanghais, entwickelte Bliss eine uni¬
verselle Zeichenschrift, die er am 23. Februar 1943 zum ersten
Mal in Shanghai vorstellte. Das jüdische Emigrantenblatt Our