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Ich habe kürzlich zwei mitleidige Romane gelesen, beide
heißen Der graue Mann. Die Autorin Marie Frischauf'hat den
ersten 1949 veröffentlicht, der zweite, ein Fragment, wurde
von Marcus Patka aus dem Nachlaß publiziert. Im ersten
Roman, der zwischen 1937 und 1943 in Wien spielt, geht es
um ein junges Ehepaar. Der Mann wird aus Elend roh und
macht bei den Nazis mit, die Frau bleibt ehrhaft. Man könnte
auch sagen, der Mann bemüht sich, das Mitleid abzutöten, die
Frau bewahrt es. „Er hat zugesehen, er hat geduldet, daß sie
morden und rauben! Er hat kein Mitleid gehabt. .. “, denkt sie,
während er überlegt, ob er nicht „noch immer zu demütig, zu
nachgiebig“ sei. „Soll ich etwa mitleidig sein?“ Und dann halb
von außen, im inneren Monolog: „Nein, er würde sich nicht
mehr in Gefahr bringen lassen, nicht durch Mitleid und nicht
durch Zweifel.“ Im zweiten Roman, der 1946/47 spielt, begibt
sich ein empfindsamer Künstler in die Halbwelt des Schleich¬
handels. „Frauen“, heißt es, „‚zeichnete er nicht gerne. Er war
zu mitleidig, um alles das auszudrücken, was er hinter ihren
bemalten Gesichtern und posierenden Blicken erkannte.“ Für
den Protagonisten Karl Grundner, der nach oben will, gilt:
„Wer sich durch Mitleiden ... in eine falsche Denkrichtung
drängen läßt, kann nicht unbeirrt den Geschäften nachgehen.“
Und Christine, die Frau aus dem ersten Roman, kann für ihren

mehr empfinden, „sondern auch keine Rührung und ‘kein

Mitleid“. Denn sie weiß, daß, „was so vielen anderen gesche¬
hen war, mit seiner Mithilfe geschehen war“.

Frischauf ist eine vergessene Autorin, und auch die
Herausgabe ihres nachgelassenen Manuskripts wird dem
Vergessen keinen Abbruch tun. Denn wir leben in einer Zeit
und unter gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen Flex¬
ibilität gefragt ist, Geschmeidigkeit, Anpassungsfähigkeit.
Ironie hilft dabei, Mitleid schadet. Im Zweifelsfall bin ich für
schadhafte Kunst.

Erich Hackl, geboren 1954 in Steyr (( Oberösterreich) und dort
auch aufgewachsen; Studium der Germanistik und
Hispanistik. Lehrer und Lehrbeauftragter in Wien und Madrid.
Ab 1976 regelmäßiger Mitarbeiter der Zeitschrift „Wiener
Tagebuch“. Übersetzer spanischer und lateinamerikanischer
Literatur; u.a. Herausgeber der Anthologie „Hier ist niemand

lichte zahlreiche Essays und Porträts u.a. in Wochenzeitung
(Zürich), Die Zeit (Hamburg), Die Presse (Wien), Mit der
Ziehharmonika (Wien), Der Standard (Wien), mern und
Kritik (Salzburg).

_ Bücher: Auroras Anlaß (1987); Abschied von Sidonie
(1989); König Wamba (1991); Sara und Simön (1995); In fest¬
er Umarmung (1996); Entwurf einer Liebe auf den ersten
Blick (1999); Album Gurs (2000).

. Verzweifelt, wenn da nur Unrecht war und
a Empörung ... Bertolt Brecht

Das Mitleid — seine Abwesenheit und Gegenwart in der
Literatur — ein Thema, dem nachzuspiiren langwierig und un¬
ergiebig scheint, handelt es sich bei ,,Mitleid“ um einen durch
beliebige Verwendung, einseitige Auslegung und Nietzesche
Analysen deformierten und entstellten Begriff, verbraucht,
stumpf, konturlos. Da tauchen vor dem inneren Auge im bes¬
seren Fall eifrig für Afrika weihrauchschwingende heilige drei
Könige auf, im schlechteren Fall selbstgefällige Charity
Ladies, die sich und ihresgleichen vor dem Elend der Welt und
vor dem Elend der sozialen Treffsicherheit „wohltätig“ in
Szene setzen. Mitleid, das scheint ein Begriff zu sein, der sei¬
ne Berechtigung und Gültigkeit in fernen (Kinder)Zeiten hat¬
te, aber auch da stellt sich eher die Assoziation ein zur kleinen
Meerjungfrau als zum Mädchen mit den Schwefelhölzern.
Mitleid — peinlich berührt? — Naja, es ist unangenehm.
Trotzdem: Unter der katholischen Schlacke und dem Grind
bürgerlicher Verlogenheit kann ein noch brauchbarer Begriff
stecken.

Nicht nur Land, auch Sprache läßt sich okkupieren. Und
nach der „Heimat“ und der „Anständigkeit“ sollten wir uns
nicht auch noch das Mitleid unbesehen nehmen lassen. Ein
zweiter Blick auf das Wort und in verschiedene
Nachschlagwerke schadet nicht. Duden, Österreichisches
Wörterbuch, Synonymwörterbuch der DDR... Mitleid - eine
Annäherung:

Mitleid: —= Erbarmen, Erbarmung, Barmherzigkeit, ein
menschliches Rühren + Nächstenliebe.

Mitleidig: —= mitfühlend, teilnahmsvoll.

In Mitleidenschaft ziehen: — beschädigen.

Mitleid: —= Lehnübersetzung vom spätlateinischen com¬
passio und vom griechischen sympatheia: Mitgefühl.
Mit „Erbarmen“ kann ich nichts anfangen, aber mit Mitleid,
das sich von Sympathie herleitet und in Mitgefühl übergeht, im
Sinne von „mit einem anderen am gleichen Übel teilhaben“
schon. Das ist eine warme, griffig-irdische Interpretation des

„Solidarität“ —> Verbundenheit) entfernt ist. Beiden Begrif¬
fen ist überdies gemein, daß sie derzeit aus der Zeit sind.

Franz Kain hat meines Wissens zumindest in seinen Essays
und Aussagen über sein Schreiben den Begriff „Mitleid“ nicht
verwendet: Er spricht und schreibt darüber, daß es ihm wich¬
tig ist, zu zeigen, was dem Menschen widerfährt:

Die Ingredienzien einer Geschichte sind immer noch die¬
selben: menschliches Verhalten, Bewähren und Versagen. Es
muß gezeigt werden, was dem Menschen widerfährt. Nicht im
fatalistischen Sinne, sondern im Eingebettetsein in große
Zusammenhänge.

Wir leben in einer Zeit, da ein großer Teil der Wirklichkeit
ausgeblendet bleibt oder mit einer Scheinwirklichkeit überblen¬
det wird. Zwischen dem, was dem Menschen widerfährt und den
großen Zusammenhängen wird eine Kulisse heruntergelassen.
Aber die Zusammenhänge zeigen sich gerade dort sehr klar, wo
sie verschleiert werden sollen, wie eben jetzt, im öffentlich¬