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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT

TRUST

Im Winter 1998/1999 wurde im Wiener Literaturhaus eine
Ausstellung zum 100. Geburtstag des Komponisten Hanns
Eisler gezeigt: „s’müßt dem Himmel Höllenangst werden“. Als
Finissage fand am 10. Februar 1999 eine Veranstaltung unter
dem Titel „Der blinde Fleck? Judentum und Shoah bei Paul
Dessau und Hanns Eisler“ statt, bei der Peter Petersen
(Hamburg) und Gerhard Scheit (Wien) referierten und disku¬
tierten. Im folgenden wird der Vortrag von Peter Petersen do¬
kumentiert, der sich vor allem mit Dessau beschäftigt; in der
nächsten Orpheus Trust-Beilage der ZW werden die Eisler ge¬
widmeten Ausführungen von Gerhard Scheit folgen.

Von einer bestimmten Warte aus gesehen weisen Leben und
Kunst von Eisler und Dessau sehr viele Parallelen auf. Sie rei¬
chen von generellen Zuordnungen bis zu bestimmten Details ih¬
res Schaffens. So gehörten sie einer Generation an (Dessau
wurde 1894, Eisler 1898 geboren). Beide haben einen jüdischen
familiären Hintergrund.' Sie mußten vor den Nazis fliehen und
wählten beide letztendlich die USA als Asylland. Hier trat
Dessau in die KP ein, während Eisler sich schon seit den 1920er
Jahren als Kommunist verstand. Bertolt Brecht war für beide
ein wichtiges Vorbild, desgleichen Arnold Schönberg, für den
sie sich auch in der DDR stark machten. Als Komponisten
wandten sie eine individuell weiterentwickelte Zwölftontechnik
an. Daneben hatten beide viele Erfahrungen auf dem Gebiet der
Filmmusik. Das von Eisler erfundene, moderne politische Agi¬
tationslied wurde von Dessau aufgegriffen. In der DDR, für de¬
ren System sich beide nach dem Krieg entschieden, wurden sie
hoch geehrt, gleichzeitig aber in ihrer Arbeit behindert (siehe
die Lukullus- bzw. Faustus-Debatten). Sie wirkten beide als
Kompositionslehrer und hatten gute, kritische Schüler, für de¬
ren Werke sie sich mit Rat und Tat einsetzten.

Die Unterschiede zwichen den beiden Künstlerper¬
sönlichkeiten Dessau und Eisler sind schwerer zu fassen und
auch nur zum Teil zu ergründen. Generell läßt sich sagen, daß
bei Dessau sich alles langsamer entwickelte als bei Eisler.
Überhaupt war Eisler der brillantere Intellektuelle, während
Dessau über ein ganz individuelles Charisma als Mensch und
Musiker verfügte. Am wichtigsten scheint mir die Herkunft aus
verschiedenen Gesellschaftsklassen zu sein. Eisler wurde in
eine Familie des gehobenen Bildungsbürgertums hineingebo¬
ren; sein Vater war Philosoph und — wenngleich verarmter —
Privatgelehrter. Dessau entstammte einer weitgehend verelen¬
deten Arbeiterfamilie; sein Vater war Gelegenheitsarbeiter im
Hamburger Hafenviertel.

Nicht das wirtschaftliche Elend ist in unserem Zusam¬
menhang indes ausschlaggebend, sondern das verschiedenar¬
tige kulturelle und intellektuelle Ambiente der beiden
Familien. Wie wurde geredet, was wurde gedacht, welche Bü¬
cher waren erreichbar, mit wem verkehrten die Familien?
Eisler wußte von Dessaus Lebenshintergrund und hat sich ein¬
mal auf eine sehr behutsame Art darüber geäußert:

“Aber es ist klar, mein Freund Paul Dessau kam ja aus ei¬
nem ganz anderen Milieu wie unsereins. (Das ist kein Nachteil

von ihm!) Er war etwas ungeübter, sich geistig zurechtzufin¬
den. Er hat sich ja erstaunlich schnell zurechtgefunden [...]‘“”

Rudolf Eisler, der Philosoph, war Teilnehmer am akademi¬
schen Diskurs seiner Zeit; sogar Lenin soll sich für seine
Schriften interessiert haben’. Sally Dessau, der Zigarrendreher,
schrieb und sprach nur ein unbeholfenes Deutsch. Nichts ist
kennzeichnender für Dessaus frühe Sozialisation als der
Lebensbericht von Sally Dessau, 1919 seinem „lieben Sohn
Paul gewidmet, auf sein Ersuchen“*. Hier der Anfang:

Es ist mir noch in Erinnerung, wie ich als 3jähriger Knabe
[das war 1852] mit meinen Eltern in Sülz (Oberschlesien)
wohnte, wo mein Vater Moses Dessau, Vorbeter war, die
Gemeinde verarmte und wir zogen wieder nach Hamburg, wo
mein lieber Vater viele Sorgen hatte, alles wieder herbei zu
schaffen, denn wir hatten in Sülz alles verloren, mein Vater
wollte nie wieder Stellung als Vorbeter annehmen und suchte
auf anderer Weise, sich sein Lebensunterhalt zu schaffen und
kurz gesagt, als ich 6 Jahre alt war, fingen meine Eltern ein
Mehl und Brotgeschäft an.

Dessau hat seinen Vater sehr geliebt. Er liebte seine leben¬
spraktische Tapferkeit und seine unprofessionelle Musikalität.
Auch die unreflektierte Frömmigkeit seines Vaters (der den zi¬
tierten Bericht mit „Gotte gebe es Amen“ beendete) wird
Dessau in seine Liebe mit eingeschlossen haben. Es war ein
kleines, jüdisches Leben, das die dreiköpfige Familie da in
Hamburg führte. Dessau berichtete später:

„Jedes Jahr, am Seder-Abend, waren wir Gäste im Haus
meines Onkels’, und ich erinnere mich, wie ich die begei¬
sternde Geschichte vom Auszug aus Ägypten, die Lieder und
Gesänge und besonders den Augenblick, in dem sich die Tür
für den Propheten Elia öffnete, bewunderte.‘“

Wie intensiv bzw. streng das Judentum im Alltag der Fa¬
milie und an den Festen praktiziert wurde, ist nicht bekannt.
Immerhin kannte Dessau beispielsweise die traditionelle
Melodie „Kol Nidre‘ aus seinen Gottesdienstbesuchen in der
Kindheit’ und hat in seiner Jugend in Hamburg im Synago¬
genchor gesungen. Überhaupt fühlte er sich „in der traditio¬
nellen musikalischen Weise zu Hause‘”.

Von den bezeichneten sozialen Rahmenbedingungen hing
das Verhältnis dem eigenen Judentum gegenüber ab. Bei Des¬
sau scheint eine entschieden marxistisch-atheistische Orien¬
tierung erst im Pariser Exil im Zusammenhang mit dem
Spanischen Bürgerkrieg eingesetzt zu haben. (In die KP trat
Dessau förmlich 1946 ein, als er in Los Angeles lebte.'”) Ob er
in den 10er und 20er Jahren noch religiés empfand oder gar in
die Synagoge ging, wissen wir nicht; er hat sich dariiber aus¬
geschwiegen. Sicher ist indessen, daß der Vorgang der Eman¬
zipation von religiösen Affinitäten zugleich eine Herauslösung
aus dem elterlichen Milieu bedeutete, die Dessau schmerzlich
berührte. Dies betrifft im übrigen nicht nur die Religion, son¬
dern die gesamte intellektuelle Entwicklung Dessaus.

Es tut sich hier eine (überraschende) Parallele zwischen
Dessau und Brahms auf. Brahms’ lebenslange, geradezu kind¬
liche Solidarität zu den Eltern im Milieu des Hamburger Gän¬

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