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Am 8. April wurden Milo Dor und Ruth Klüger im Bruno Kreisky-Forum in Wien der Bruno Kreisky-Preise für das politische Buch für ihr publizistisches Gesamtwerk verliehen. Nach einleitenden Worten des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, Alfred Gusenbauer, hielt Hannes Swoboda die Laudatio. Bei dieser Gelegenheit wurde auch Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser ein Anerkennungspreis für das „Lexikon der österreichischen Exilliteratur“ übergeben. Ruth Klüger und Milo Dor, die beide in diesem Lexikon als vom Nationalsozialismus verfolgte Schreibende verzeichnet sind, haben uns ihre Dankesworte, die von über 300 ZuhörerInnen mit großem Interesse aufgenommen wurden, zur Veröffentlichung übergeben. — Red. Verehrte Mitglieder der Jury, meine Herren und Damen: Ich glaube es war vor knapp fünf Jahren, daß ich die Ehre und das Vergnügen hatte, hier vor Ihnen im Kreisky-Forum über einen Schriftsteller reden zu dürfen, der mir immer etwas zu sagen hat und mir immer, in der Art und Weise, wie er es sagt, Freude macht. Erich Hackl erhielt damals den Bruno Kreisky-Preis für seinen Essay-Band „In fester Umarmung“, und ich war die Laudatorin. Ich sprach über Geschichte und Literatur und wie sie sich, meines Erachtens, in Hackls Werk zueinander verhalten. Und nun bin ich zu meiner Verwunderung selbst Preisträgerin und frage mich, wie ich es verdient habe, einen Preis fürs politische Buch einzuheimsen, einen Preis, der nach einem österreichischen Kanzler benannt ist. Wenn ich mich nicht hinter Gottfried Keller verschanzen will, der behauptet hat: „Vom Ziegel auf dem Dach bis zur Sohle unterm Schuh ist alles Politik“, so muß ich mich schon in aller Ehrlichkeit fragen: Was für ein politisches Buch habe ich denn geschrieben? In meiner Karriere habe ich mich vor allem mit Literatur befaßt, und Literatur ist ja, in der Meinung vieler, politikneutral. Selbst Milo Dor, der zweite oder, meines Erachtens, der erste Preisträger dieses Abends, ein Schriftsteller, der einwandfrei politische Bücher verfaßt hat und zwar auch in fiktionaler Form, von den Romanen bis zu der satirisch düsteren hochaktuellen Dystopie der Novelle „Wien 1999“ — selbst Milo Dor ist nicht ganz glücklich mit dem Verhältnis Politik/Literatur, wenn er schreibt: „Politik und Literatur sind zwei ganz verschiedene, ja entgegengesetzte Geschäfte. Ein Politiker muß verallgemeinern und simplifzieren... Ein Schriftsteller hingegen muß differenzieren, sich um den einzelnen kümmern und ihn gegen alle anderen in Schutz nehmen.“ (Schriftsteller und Potentaten, S. 94) Es ist ein Satz, der zum Nachdenken einlädt. Ich grübelte also über den Sinn des Wortes „politisch“ bei Platon, bei Keller, bei Hackl, bei Milo Dor — und tat dann, was Philologen tun, wenn sie die Antwort nicht wissen, das heißt, sie gehen philologisch akribisch zu Werk, sie klammern sich ans Wort und führen es auf seinen Ursprung zurück, an den sich das arme Wort selbst nicht unbedingt erinnert. Wie dem auch sei, gerechtfertigt oder nicht, ich versteifte mich darauf, die Wurzel des Wortes „politisch“ auszugraben und ernst zu nehmen, und die ist bekanntlich das griechische Wort für Stadt, die „polis“, eine Einheit des Zusammenlebens, also die Stadt als Staat und Gemeinschaft, die dem einzelnen Mitglied seine Daseins- und Entfaltungsmöglichkeiten erst schafft. Und da konnte ich denn mit gutem Gewissen sagen, daß mich als Literaturwissenschaftlerin die Frage, wie die Menschen miteinander leben, was für Gemeinden sie bilden, in den Dichtungen, die ich unter die Lupe nehme, mehr als die Frage beschäftigt, wie Einzelgänger mit ihrer Einsamkeit zurechtkommen. Letzteres, das Alleinsein, ist ja ein großes romantisches Thema, aber es berührt mich weniger als die, im weitesten Sinne, politischen Fragen wie die Menschen miteinander auskommen. Das ist es, was mich vor allem zu Kleist hinzieht, die großen Aufstände und Rebellionen, wie im „Kohlhaas“, wo die politische Seite der Reformation zur Debatte steht, der soziale Umsturz, der in Deutschland nicht stattfand; oder in der „Verlobung in St. Domingo“, wo es um die Befreiung von einer Kolonialmacht geht und erst in zweiter Linie um eine Liebesgeschichte; und schon gar in der „Penthesilea“, wo das Gemeinwesen, die beiden Heere, Griechen wie Amazonen, das Privatleben der Einzelnen völlig verschlingt. Und wie stehen doch bei Lessing die Kriege lauernd im Hintergrund seiner Dramen, der schlecht verdaute Siebenjährige Krieg in der „Minna von Barnhelm“ und erst recht der nicht endenwollende Kreuzzug in „Nathan der Weise“. Die Einzelgeschicke sind da oft gar nicht so spannend wie die Spinnennetze der Geschichte, in der sie wie hilflose Fliegen gefangen sind. Was mich zu dem ganz anders gearteten Stifter hinzieht, ist nicht die Ausgewogenheit seiner Sätze oder die banalen moralischen Sentenzen, die er seinen Lesern schuldig zu sein glaubte, sondern die Gemeinschaften, die er entwirft, teils brüchig und gefährdet, wie in „Brigitte“ und „Abdias“, teils utopisch vollendet wie im Rosenhaus des „Nachsommers“. Einzelgänger haben bei Stifter meist das Nachsehen, er steht ihnen kritisch gegenüber, weil er ihr Leben für falsch hält, wie etwa der ewige Junggeselle im „Hagestolz“. Stifter malt Landschaften und Gruppenbilder, keine markanten Einzelportraits. Diese drei als Beispiele dessen, was man vielleicht als meine politischen, wenngleich unparteiischen Tendenzen in der Literaturkritik bezeichnen könnte. Dazu kommt allerdings auch die Parteilichkeit. Ich habe ein gespanntes Verhältnis zu der Literatur, mit der ich mich abgebe. Ich trau’ den Dichtern, besonders den deutschen, nicht. Wenn man bedenkt, daß Goethe als Minister in Weimar die Todesstrafe für Kindsmörderinnen befürwortet hat, so liest sich die Kerkerszene ganz anders, diese letzte wunderbar lyrische Szene im Faust I, wo Gretchen sich weigert, Faust und seinem Teufel zu folgen und lieber ihrer Hinrichtung entgegen sieht. Wir schmelzen hin vor Mitleid, aber wenn wir einen Moment politisch denken, so müssen wir doch fragen, warum Goethe dieses liebenswürdige, konfuse Mädchen nicht rettet. Antwort: weil sie büßen muß, weil ihr seelisches Heil vom Vollzug des weltlichen Richtspruchs abhängt. Das hat seine Richtigkeit in