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Goethes Rechtsbild, wie wir es aus seiner Weimarer Zeit kennen, in meinem aber nicht, und so sehe oder lese ich diese Szene noch immer mit der größten Bewunderung für ihre Durchführung und für die dichterisch großen Passagen, aber auch im Bewußtsein, daß hier etwas ausgesagt wird, das meinem moralischen Empfinden widerstrebt, nämlich daß diese 15jährige, die auf einen alten, kosmetisch verjüngten Mann von dubioser Weltanschauung hereingefallen ist, auch moralisch ihr Leben verwirkt hat. Manche der schönsten romantischen Gedichte stammen von reaktionären Antisemiten, mit denen ich nicht an einem Tisch sitzen möchte. Manche der witzigsten modernen Romane sind von Autoren verfaßt, denen die Frauen nicht wie vollwertige Menschen vorkommen. Rilke hat Mussolini bewundert und Schnitzler hat sich nicht daran gestoßen, daß seine Tochter einen italienischen Faschisten heiratete. Das sind alle miteinander keine Leute, die mir vorbildlich vorkommen. Und wenn ich ihre Bücher lese, so frage ich mich ständig, ob ihre Meinungen an dieser oder jener Stelle eine Rolle spielen oder ob ich mich getrost für den Augenblick nicht mit ihnen streiten muß. Man könnte sagen, das ist eine politische Art ein Buch zu lesen, denn sie läßt die Welt nicht außer acht, die außerhalb des Werkes liegt. Viele Kollegen werden mir sagen, das sei alles irrelevant, Kunst sei Kunst, Politik sei Politik, aber ich glaube eben nicht, daß diese Kollegen sich einer Kopfwäsche unterziehen und alle politischen Gedanken aus ihrem Gehirn verscheuchen, bevor sie ein Gedicht von Gottfried Benn oder Erich Fried in die Hand nehmen, sondern daß auch sie in der Literatur einen Widerschein der Welt und ihrer eigenen Anliegen sehen und suchen, ohne es wahrhaben, oder zumindest ohne es zugeben zu wollen. Aber wir sagten ja vorhin, polis sei die Stadt. Politisch denken wäre somit ein bewußtes Verhältnis zu einer Stadt. In diesem Sinne, im Denken über eine Stadt, die mich angeht, ist mir Wien die eigentliche, die ursprüngliche polis, die Gemeinschaft, die mich nicht haben wollte, die aber in mir steckt, wie in allen Menschen die Kindheit steckt. Milo Dor sieht das Wien, in dem er heute lebt, als eine „nicht mehr junge Schlampe, die mit dicker Schminke ihre Falten verdeckt, mit lautem Singsang ihre brüchige Stimme kaschiert und durch lebhafte Gesten den Eindruck der Jugendlichkeit vorzutäuschen versucht. Aber ich liebe sie“, schreibt er. (Mitteleuropa, S. 167) Das ist der männliche Standpunkt, Wien als zwielichtige, faszinierende Frau. Auch für mich hat das Wiener Zwielicht etwas von der „völligen Mißachtung des Zeitfaktors‘“ (ibid.), von dem mein Mit-Preisträger spricht, aber bei mir ist es ein Mann, der mich auf diesen Straßen als durchsichtiges und oft ungeduldiges Gespenst begleitet, nämlich mein Vater, der jetzt schon jünger als meine eigenen Söhne ist, ermordet aus keinem anderen Grund, als daß er ein so eingefleischter Wiener Jude war. Daß die Gespenster immer jünger werden, ist eine Erfahrung, die mir keine Stadt so vermittelt wie, laut Milo Dor, „diese Hauptstadt ... der gescheiterten Versuche, Geschichte zu machen.“ (ibid.) Wenn ich von meinem Vater spreche, so komme ich unweigerlich auch auf meine Autobiographie, die eine Jugend beschreibt, welche zwar reichlich von der Politik beeinflußt war, in der ich selbst aber keine politische Rolle spielte, so daß ich nur beschreiben kann, wie eine wacklige Republik Österreich direkt über meinem armen, noch recht unreifen Kopf zusammenzustürzen schien. Wien ist mir Fluchtpunkt in beiderlei Sinn. Einerseits der Ort vergangener Bedrohung schlechthin, ein Ort, den man verlassen wollte, und schließlich unter denkbar ungünstigen Umständen, nämlich in Richtung KZ, verlassen mußte. Andererseits ist es auch Fluchtpunkt in dem perspektivischen Sinn einer Illusion, der Punkt, wo die parallelen Linien zusammenzustoßen scheinen. Im Englischen heißt das „vanishing point“, und in beiden Sprachen ist der Ausdruck merkwürdig evokativ, da flieht und verschwindet etwas und ist doch nicht aus dem Spiegel der Augen zu löschen. Peter Weiss hat einen Band seiner Autobiographie „Fluchtpunkt“ genannt, und es ist das richtige Wort für Flüchtlinge, die über ihre Herkunft etwas aussagen wollen. Ich vermute stark, daß meine zwiespältige Haltung der deutschen Literatur gegenüber verwandt ist mit meinen noch zwiespältigeren Gefühlen gegenüber meiner Geburtsstadt. Und das habe ich nun mit Milo Dor gemeinsam, Wien gewissermaßen als Ausgangspunkt des weiteren Lebens, und zwar Nazi-Wien, das wir auf verschiedene Weise erlebt haben, aber beide als Verfolgte, als Ausländer und Ausgestoßene, die doch irgendwie nicht umhin können, sich zugehörig zu fühlen. In Amerika schüttelten manche Leute den Kopf über mich, als ich mich nach 16jährigem Assimilationsbemühen entschied, mich mit deutscher Literatur abzugeben. Meine Mutter hat die Germanistik nie für einen vollwertigen Beruf angesehen. Aber diese Sprache, dieses Schrifttum ist nun mal mein Erbe. Bei uns zu Hause war man nicht einmal so belesen wie in vielen anderen jüdischen Familien, und wir besaßen gar keine stolze Bibliothek, sondern nur einen zusammengewürfelten