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Bücherschrank, aber der Glaube an Bücher, die Überzeugung,
daß das Lesen eine heilsame Beschäftigung sei, war, wie über¬
all bei emanzipierten Juden, stärker als das religiöse Judentum
selbst. Es war nichts Besonderes, daß ein kleines Mädchen sich
Schillers „Don Carlos“ vom Buchregal angelte, und erst recht
den Grillparzer und den Raimund, neben einem gelegentlich
vom Bruder gestohlenen Band Karl May. Und das alles, auch
der Karl May, behielt für mich den unverkennbaren Zun¬
genschlag dieser Stadt. So habe ich noch einen letzten Zipfel
eines untergegangenen, kurzlebigen Wiener Kulturjudentums
erwischt, oder vielleicht nicht einmal einen Zipfel, nur einen
Faden, aus einem zerstörten Wandteppich herausgerissen, und
ihn, ohne mir Rechenschaft darüber zu geben, in späteren Le¬
bensphasen weitergesponnen.

Nachdem ich meine Autobiographie „weiter leben. Eine
Jugend“ geschrieben hatte, wurde ich öfters gefragt, warum ich
die deutsche Sprache gewählt hatte. Die Frage kehrt jetzt, wo
ich das Buch endlich auch auf Englisch um- und neugeschrie¬
ben habe, wieder. Tatsächlich war mir zu der Zeit das Englische,
besonders schriftlich, geläufiger als das Deutsche geworden,
denn ich hatte praktisch keine deutsche Schulbildung genossen
oder, wenn Sie wollen, erdulden müssen. Meine Antworten auf
diese Frage waren nicht immer dieselben, weil ich selbst nicht
genau wußte, warum ich das Deutsche, mit seinem bekanntlich
bedeutend kleineren Wortschatz gewählt hatte. Aber nachdem
meine zweisprachigen Freunde mir sagen, in der englischen
Version vermissen sie den wienerischen Tonfall, meine ich die
richtige Antwort zu wissen. Die deutsche Spache, latent im
Gehirn, aber noch immer robust, hatte mich gewählt, nicht um¬
gekehrt. Wenn man sich intensiv auf die Kindheit besinnt, dann
sinniert man in der Sprache der Kindheit, und das war natürlich
für mich das wienerische Hochdeutsch. Ich war in der Erin¬
nerung kopfüber in dieses flackernde, gefährdete Zuhause der
späten dreißiger, der frühen vierziger Jahre getaucht. Dank der
vielen Jahre meines zweiten Lebens in Amerika gab es oft
Unsicherheiten bei der Wortwahl, und immer griff ich auf das
Kind zurück, das ich gewesen war, und wenn dieses kleine
Mäderl mir eifrig nickend versicherte: „Dieser Satz trifft’s, die¬
ses Wort sitzt“, dann glaubte ich ihr und schrieb getrost weiter.
Und so schrieb ich schließlich einen Satz, den Ilse Aichinger zu
meiner Freude öfters wohlwollend zitiert: „Wien ist die Stadt,
aus der mir die Flucht nicht gelang“, was gleichzeitig bedeutet,

daß Wien mein erstes Gefängnis war. In dem Sinne ist „weiter
leben“ ein politisches Erinnerungsbuch.

In einem Gedicht von Robert Frost heißt es: „Home is the
place where, when you have to go there,/ They have to take
you in.“ „Zu Hause bist du dort, wo man dich reinlassen muß,
wenn du vor der Türe stehst.‘ Und da sehen wir sofort den Rif,
der durch die Vergangenheit und Gegenwart der vielen,
Flüchtlinge unserer Welt geht. Denn wie, wenn sie dich plötz¬
lich „zu Hause“ nicht mehr reinlassen, dort, wo du eben noch
gewohnt hast? Dann wird dir das „zu Hause“ noch immer ver¬
traut sein und doch unheimlich wie kein anderer Ort. Und du
wirst dir nehmen, was du schleppen kannst, wenn’s auch nur
die ohnmächtigen Wörter sind, die man beim Spielen verwen¬
dete, Spiele im Stadtpark, bis das verboten war, später Spiele
am jüdischen Friedhof, das war erlaubt. Wörter wie Steine, die
man, gemäß der jüdischen Sitte, den Toten aufs Grab legt. Und
vielleicht ist auch das, dieses Beschweren der Gräber mit
Bruchstücken der Welt, eine politische Handlung.

Meine Mutter hat noch andere Ortschaften als Wien gehabt,
ich sowieso. Aber mein Vater war nichts als Wiener. Und wenn
ich vorhin von meinem Erbe gesprochen habe, so ist das fol¬
gerichtig mein „patrimonium“, Erbschaft von väterlicher Seite.
Ich hab’ mir oft vorgestellt, daß mein Vater in den letzten
Wochen vor seinem Tod sich vielleicht gegrämt hat, weil er
seinem Kind in schweren Zeiten nichts hinterlassen konnte.
Und wie man als älter gewordene Frau den jünger gewordenen
Gespenstern tröstlich begegnet, sagte ich dann beschwichti¬
gend zu dem seinen: „Siehst du, ich hab doch was von dir ge¬
kriegt. Dein Deutsch, mit allem Drum und Dran.“ Als die
Nachricht kam, daß Sie mir den Bruno Kreisky-Preis zuge¬
sprochen haben, da fragte ich mich, wem ich das sofort mit¬
teilen kann, wer meine Freude teilen würde. Die Kinder, die
kein Deutsch verstehen? Werden höflich gratulieren. Aber dem
Vater, dem konnte ich’s rückwendend sagen: „Schau, jetzt ha¬
ben sie’s mir bestätigt. Jetzt heißt’s offiziell in Wien, daß ich
dein Erbe nicht nur bekommen und mitgenommen, sondern
auch gehütet und gut verwaltet habe. Glaubst du mir jetzt, bist
du zufrieden?“

Verehrte Mitglieder der Jury: ich habe mich vorbehaltlos
über diesen Preis gefreut, aus einem tiefen emotionalen Ur¬
grund heraus, wie ihn meine kleine Gespenstergeschichte zu
veranschaulichen sucht. Ich danke Ihnen.

Cécile Cordon und Helmut Kusdat (Hg.)

AN DER ZEITEN RANDER

Czernowitz und die Bukowina

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