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Der folgende Text wurde unter dem Titel „Feinere Vibrationen:
Kandinsky und die Musik“ am 30.11. 2001 bei dem Symposium
„Arnold Schönberg — Wassilij Kandinsky: Malerei und Musik im
Dialog“ in der Staatlichen Tretjakow Galerie in Moskau vorge¬
tragen. Das Symposium fand im Rahmen eines Festivals zum 50.
Todestag Schönbergs statt, das vom Tschaikowsky Konser¬
vatorium, der Tretiakow Galerie, dem Arnold Schönberg Center
Wien, dem Kulturforum der Österreichischen Botschaft und dem
Goethe Institut veranstaltet wurde. Neben Christian Meyer, der
über die Tätigkeit des Schönberg Center sprach, war L. Kaiser
der einzige österreichische Referent. - Daß die Abstraktion (ab¬
strakter Expressionismus, Informel) in der Kunst per se antina¬
zistisch sei, zählt gewiß zu den für die Nachkriegsära in
Westeuropa charakteristischen Kunstillusionen. Dies und die in
der Dämonisierung eines Adolf Hitler zum historischen De¬
miurgen s ich manifestierende Unwissenheit über die ideologi¬
sche Vorgeschichte des Nationalsozialismus veranlaßt uns der
ganzen Thematik in Hinkunft mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Hinzu kommt das Vergnügen, einer intellektuellen und gleich¬
wohl in sich nicht unentschiedenen Rede zu lauschen. — Red.

1.

Mein Thema ist: „Kandinsky und die Musik“, und wenn ich
dem Verhältnis Kandinskys zu Schönberg weniger Beachtung
schenke, bitte ich das zu entschuldigen. Es ist nicht mein
Arbeitsgebiet. Zwar ist die Befreiung der Musik aus dem
Korsett der Tonalität mit der Befreiung der Malerei von der
Bindung an den Gegenstand verglichen worden, und Kandinsky
hat darin den Übergang von der äußeren Regel zur inneren
Notwendigkeit der Gestaltung gesehen.' Doch hatten die wich¬
tigsten Ideen über Musik und Malerei bei Kandinsky längst vor
der ersten Begegnung mit Schönberg im Jänner 1911 feste Form
angenommen. Es scheint mir daher nötig, hier andere, frühere
Einflüsse zu analysieren, deren Bedeutung für die Beziehung
Schönberg-Kadinsky musikwissenschaftlich und biographisch
Kompetentere werten mögen.

Das von mir gewählte Thema berührt Kunst und Kunst¬
verständnis des ganzen abgelaufenen Jahrhunderts. Kandinskys
theoretische Schriften und seine bildnerische Praxis vollenden
einen Paradigmenwechsel, der sich seit der Frühromantik ange¬
bahnt hatte. Die Musik tritt als beispielhafte Kunstgattung - als
die, worin sich die Kunst am reinsten und höchsten verwirklicht
—- sowohl an die Stelle des bei den alten Griechen verwirklich¬
ten und durch Raffael wiederverwirklichten Ideals des Schönen
als auch an die Stelle der schönen Literatur, der Leitsterne der
klassizistischen Periode. Nach dem berühmten Ausspruch des
Simonides ist die „Malerei stumme Dichtkunst, und Dichtkunst
ein sprechendes Bild.“” Die antike Auffassung der Wechsel¬
beziehung von Wort und Bild, Narrativem und Mimetischem
wird nun mit Anspruch auf Endgültigkeit durch die Analogie des
Komponierens mit reinen Formen in Malerei und Musik ersetzt,
wobei der Musik die Rolle des Vorbilds zukommt. Daß der Ma¬
ler ganz genauso mit Farben und Linien arbeite wie der Kom¬
ponist mit Tönen und Intervallen, hat schon wenige Jahrzehnte
nach dem Erscheinen von „Über das Geistige in der Kunst“ den
Status eines Volksvorurteils der gebildeten Welt erlangt.’

Als Künstler, Kunsthistoriker und Philosoph gilt mein Interesse
der Vorgeschichte der abstrakten Malerei, der Problematik ihres
Übergangs aus dem 19. Jahrhundert, den historischen und mehr
noch intellektuellen Schranken, die die Entwicklung der ab¬
strakten Malerei geprägt haben.

2.

Die Versuche, mit der Malerei „musikalisch“ zu werden, sind
schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreich und er¬
reichen ihren Höhepunkt in den ersten Dezennien des vergan¬
genen Jahrhunderts. Die „himmlische Musik“ wird in
vielfältiger Weise Mittelpunkt der malerischen Kunstübung. Das
geht von Schilderungen biedermeierlicher Hauskonzerte zu den
beliebten Komponistenportraits, von der malerischen Wieder¬
gabe von Szenen aus musikalischen Bühnenwerken zu den
Violinen und Gitarren in den Stilleben der Kubisten, von der
Übertragung musikalischer Kompositionsprinzipien in die
Malerei zur Betitelung von Gemälden als Symphonien, Fugen,
Sonaten, Improvisationen usf., von Versuchen, den musikali¬
schen Gehalt quasi pantomimisch in menschliche Bewegungen
und Gesten zu übersetzen zu den Form- und Farbsequenzen, die
musikalisches Erleben synästhetisch über die visuelle Wahr¬
nehmung wachrufen sollten.*

Kandinsky hatte den Vorteil, neben der Kenntnis der künst¬
lerischen Entwicklung in Westeuropa auch mit der Rußlands
vertraut zu sein. Wer würde bei unserem Thema nicht an
Mussorgsky denken, zu dessen Bildern einer Ausstellung Kan¬
dinsky 1928 für eine Aufführung in Dessau Bühnenbilder ge¬
schaffen hat.’ Oder an Skrjabin, der seine Oper Prometheus auf
musikalischen Korrespondenzen zu Schattierungen der Farbe
Blau aufgebaut hat, wodurch „die Farben zu Tönen werden wie
in Kandinskys Bildern die Töne zu Farben“, so Karl Woermann
1922 in seiner Geschichte der Kunst.‘ Die Kandinskysche Vor¬
stellung von einer „Bühnenkomposition“ aus Farbe, Licht, Mu¬
sik und Bewegung verdankt meines Erachtens viel der Idee des
im Ritus der russisch-orthodoxen Kirche verwirklichten
Gesamtkunstwerks, wie sie z.B. Pavel Florenskij formuliert hat.’
Für die Entwicklung Kandinskys als Maler kann der Einfluß der
russischen Kunst von der Volkskunst über den Symbolismus,
Rayonnismus usw. bis hin zum Suprematismus nicht hoch ge¬
nug geschätzt werden: als konsequent ungegenständlicher Ma¬
ler ist ihm Malewitsch durchaus vorangegangen. Bei dem
künstlerisch weit begabteren Kandinsky finden sich bis in die
1920er Jahre immer wieder Rückgriffe auf den Gegenstand, ins¬
besondere landschaftliche Assoziationen. Die spätere Entschei¬
dung Malewitsch’ für einen figuralen Symbolismus tut hier
nichts zur Sache.

Nicht zuletzt ist der in Rußland geborenen Begründerin der
Theosophie, Helena Petrovna Blavatsky, Erwähnung zu tun, de¬
ren Ideen nicht nur auf Kandinsky sondern auch auf andere
Begründer der abstrakten Malerei nachhaltigen Einfluß ausgeübt
haben.® Wenn im Folgenden die Verbindung einer Spielart des
Kantianismus — nämlich des Herbartismus — mit Ideen der Theo¬
sophie, Ariosophie und Anthroposophie im Denken Kandinskys
skizziert wird, sollte auch der Bezug zu Arnold Schönberg nicht
außer Acht gelassen werden; nicht nur, weil Kandinskys in dem

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