Aufsatz Die Bilder seine wichtigsten Gedanken Schönberg so¬
zusagen persönlich dediziert hat’, sondern auch, weil uns eine
wichtige Vermittlungslinie ins Wien des 19. Jahrhunderts zu¬
rückführt.
3.
Fast hundert Jahre vor Kandinsky erklärt Johann Friedrich
Herbart die Musik zu einzigen „Kunstlehre“, die der kantischen
Lehre vom ‚„interesselosen Wohlgefallen“ adäquat sei:
„Die Ästhetik als Wissenschaft von dem, was als schön ge¬
fallt, und zwar ohne Grund, willenlos, hat dies zuerst von dem
Begehrten, das ein Unvollendetes, und dem Angenehmen, das
sich nur auf einen subjektiven Zustand bezieht, zu sondern und
dann in seine einfachsten Elemente zu zerlegen, d.h. da nur Ver¬
hältnisse gefallen, die einfachsten Verhältnisse aufzustellen, die
ein begierdeloses Wohlgefallen hervorrufen. Nur in einer An¬
wendung der Ästhetik oder einer Kunstlehre ist dies geschehen,
in der Musik.“
Auch für Kandinsky hat das Schöne nichts mit der Darstellung
der außerkünstlerischen Gegenstände zu tun, sondern mit den
der jeweiligen Kunstgattung eigenen Verhältnissen des künstle¬
rischen Materials (Tönen, Farben, Formen). Man muß die ele¬
mentarsten dieser Verhältnisse aufsuchen, um die Gesetze des
Schönen aufzudecken. Schließlich ist das Schöne das von Be¬
gierde und Interesse Reine und Freie, das „Geistige“ — im
Gegensatz zum Materialismus des Alltagslebens. Das Streben
„zum Nichtnaturellen, Abstrakten und zu innerer Natur‘ kann
„die reichste Lehre aus der Musik“ ziehen, die — wieder Kan¬
dinsky — „schon einige Jahrhunderte die Kunst (ist), die ihre
Mittel nicht zum Darstellen der Erscheinungen der Natur
brauchte, sondern als Ausdrucksmittel des seelischen Lebens
des Künstlers und zum Schaffen eines eigenartigen Lebens der
musikalischen Töne.‘ Die „reine Malerei“, rein, da sie mit „rei¬
nen Formen“ ohne mimetischen Bezug arbeitet, nennt Kan¬
dinsky in Anlehnung an die Musik zeitweise „kompositionelle
Malerei“ und sieht in ihr „die Kennzeichen des Erreichens der
höheren Stufe der reinen Kunst, in der die Überreste des prak¬
tischen Wunsches vollkommen abgesondert werden können, die
in rein künstlerischer Sprache von Geist zu Geistreden kann und
die ein Reich malerischgeistiger Wesen (Subjekte) ist.‘“"?
Es ist gut möglich, daß Kandinsky die Schriften Herbarts im
Original studiert hat, doch bietet sich auch eine andere Ver¬
mittlung an, über Robert Zimmermann, der in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts an der Universität Wien Ästhetik in der
Nachfolge Herbarts gelehrt hat; vielleicht hat ihn sein wütender
Antihegelisanismus diese Berufung verschafft. 1882 veröffent¬
lichte Robert Zimmermann auch eine „Anthroposophie“, die für
seinen Schüler Rudolf Steiner, zwischendurch auch Sekretär der
theosophischen Gesellschaft, zur Lebensaufgabe wurde.” Der
Einfluß Rudolf Steiners auf die Theoriebildung Kandinskys er¬
scheint genauso evident wie der des herbartschen Formalismus.
Im Oktober 1909 hielt Steiner in Berlin einen Vortrag des
Titels „Das Wesen der Künste“, worin er über die Malerei
spricht: „Und alles was den Menschen sonst an der Oberfläche
der Dinge erscheint an Farbe, an Form, das werden sie durch
deine Fähigkeit (die malerische Phantasie) durchseelen; das
werden sie so behandeln, daß durch die Form spricht Seele, und
daß durch die Farbe nicht bloß die äußere sinnliche Farbe
spricht, sondern daß durch die Farbe ... etwas spricht, was
Inneres der Farbe ist ...‘“* Dies Innere nennt Kandinsky den „in¬
neren Klang“.
4.
Im Untertitel ihrer 1888 im Verlag der theosophischen Gesell¬
schaft publizierten Geheimlehre verspricht Helena Blavatsky,
eine Synthese von Wissenschaft, Religion und Philosophie ge¬
ben zu wollen." Diese Form des modernen Irrationalismus wird
durch drei Hauptzüge charakterisiert:
l. Der Gebrauch von einzelnen Resultaten der Wissen¬
schaften, um damit okkulte Spekulationen zu stützen;
2. ein gnostischmanichäischer Begriff des Geistes, für den
der Mensch zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen,
dem bloß materiellen und den reinen Geistwesen steht, deren
Wirklichkeit dem Eingeweihten der Geheimlehre hinter dem
Schleier der sinnlichen Erscheinungen erkennbar wird;
3. eine Rassenlehre, die die Höherentwicklung der Mensch¬
heit mit dem Triumph der „arischen Wurzelrasse‘“ über die
„schwarzen Rassen“, ja mit dem Verschwinden der Semiten,
Afrikaner und Asiaten als Überbleibsel einer früheren Mensch¬
heit verknüpft.
Vor allem diesen dritten Punkt, der die Theosophie zur di¬
rekten Vorläuferideologie des Nationalsozialismus macht, ver¬
suchen die heutigen Theosophen nach Kräften wegzudisku¬
tieren.'‘
Kandinskys lebenslange Anhänglichkeit an die Theosophie,
respektive an ihre ästhetisierte Form, die Anthroposophie, ma¬
nifestiert sich noch in seinem letzten längeren Text von 1938, wo
er die „große Synthese“ von Kunst, Wissenschaft und Mystik
propagiert.'’ Die Reden von Geist, Göttlichem, geistigen Wesen¬
heiten, Geistwesen usw. — oft mit der Eigenschaft der „Reinheit“
in Verbindung gebracht — mögen mitunter vieldeutig sein; in
Summe verraten sie den Einfluß des Gnostizismus, für den der
Geist kein Denken sondern ein Übersinnliches ist, zu dem der
Mensch sich bei Kandinsky durch den „abstrakten Geist“ be¬
freien soll. Der Intellekt im Sinne neuzeitlicher Rationalität ist
für Kandinsky ein Widersacher des Gefühls, der Seele, des
Geistigen. Wie weit Kandinsky den Rassismus und Antise¬
mitismus der Theosophie geteilt hat, kann ich nicht sicher be¬
urteilen; aber es gibt dafür Belege. (Siehe unten, Nachtrag).
J.
Die Aussagen Kandinskys lassen oft verschiedene — esoterische
und exoterische — Lesarten zu. Das ,,GroBe Reale“ und das
„Große Abstrakte“ können z.B. aus dem Gnostizismus Kan¬
dinskys interpretiert werden; der Gegensatz ist aber häufig als
Grundbegrifflichkeit der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts
genommen worden. Eine Diskussion dieses Themas würde den
Rahmen dieser Arbeit sprengen. Kommen wir daher schließlich
zu den „feineren Vibrationen“, von denen im angekündigten
Titel meines Referates die Rede ist.
Ein Moment, worin die Musik als paradigmatisch erfahren
wird, ist ihre Fähigkeit, die Seele des Zuhörers unmittelbar in
Bewegung, Schwingung zu versetzen. Die Musik hat von vorn¬
herein die Form der Innerlichkeit, der Mitteilung der Seele an
die Seele, des Geistes an den Geist. Kandinsky spricht davon,
daß die Malerei als ,,reine Kunst‘ es der Musik gleichtun und die
„menschliche Seele“ in „feinere Vibrationen“ versetzen werde.
Die „Verfeinerung der Seele“ erklärt er zum Ziel der Kunst."
Daß Formen als solche, ohne mimetischen Bezug, im Be¬
trachter Seelenbewegungen auszulösen vermögen, ist schon eine
Zeit vor Kandinsky von dem Münchner Architekten August
Endell dargetan worden. Er versuchte geradezu, eine Art Kla¬
viatur der Gefühle zu geben. Endell und etwas später Wilhelm
Worringer nehmen an, daß der Betrachter durch bestimmte —