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ORPHEUS

ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT

TRUST

Bevölkerung ebenso im Sinne der alten Klasse-gegen-Klasse¬
Konzeption: Gefangene und Bewacher dieser Konzentrations¬
lager gehören — nach dem Modell von Brechts Rund- und
Spitzköpfen — zur selben Klasse. Brechts Gedicht Sonnenburg,
das Eisler dem 5. Satz zugrunde legt, stammt gleichfalls von
1933 und beschreibt eines der ersten deutschen Konzentra¬
tionslager; es unterstand noch Wachmannschaften der SA —
und auf die proletarische Herkunft dieser Wachmannschaften
kommt es Brecht und Eisler wesentlich an: „Insassen und
Posten / Sind beide mager / Die hungrig draußen gehn /
Bewachen die drinnen, / Daß sie nicht aufstehn / Und dem
Hunger entrinnen. / Sie zeigen auch Waffen her, / Ruten und
Pistolen, / Damit gehn sie in die Nacht / Hungrige holen. /
Wenn sie den Führer sehn, / Dann stehn sie wie Wände / Und
strecken die Arme hoch / Und zeigen die Hände. / Daß er sieht,
wie sie Tag und Nacht / Hinter ihren Brüdern her sind, / Ihre
blutigen Hände aber / Immer noch leer sind. / Wären sie klü¬
ger, dann / Rissen sie aus den Ketten / Schleunigst den armen
Mann / Und holten den Fetten. / Dann hätte in Sonnenburg /
Das Lager einen Nutzen, / Wenn die Reichen den Armen / Die
Stiefel putzen.“ (5.Satz/T.8-44)?

In gewisser Weise möchte Eisler in seiner elfsätzigen
Symphonie die Gesänge und Märsche der deutschen Arbeiter¬
bewegung mit den Mitteln der Zwölftontechnik rekonstru¬
ieren; im Falle dieses 5. Satzes jedoch, verfremdet er damit —
bewußt oder unbewußt — vor allem die Verharmlosung der
Nazis in Brechts Reimen - so beim Ausbruch des Orchesters
an der Stelle: „Wenn sie den Führer sehn, / Dann stehn sie wie
Wände“ usw. (T.23-30) Während Eisler zur positiven
Darstellung der Arbeiterbewegung eine besondere

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Konsonantenbehandlung entwickelt, wodurch die Werke nach
konventioneller Auffassung gar nicht wie Zwölftonmusik klin¬
gen, läßt er im Falle der Nazis den dissonanten Charakter
scharf hervortreten. (Ähnlich übrigens auch in Eislers
Filmmusik zu Hangmen also die).

Im Unterschied zu Brecht scheut sich Eisler offenbar, die er¬
hoffte Umkehrung der Klassenverhältnisse physisch zu fixie¬
ren: wenn Brecht in seinem Gedicht durchgehend von „Fetten“
und „Mageren“ spricht, ersetzt Eisler in seiner Adaption des
Textes das Gegensatzpaar zuletzt durch „Reiche“ und „Arme“.
Bei der melismatischen Wendung allerdings, die den ‚Kniefall’
der Reichen zu den Worten „die Stiefel putzen“ illustriert, ver¬
stärkt die Musik wiederum das physische Moment in der er¬
wünschten Erniedrigung der Reichen durch die Armen - seien
diese nun Insassen oder Bewacher der KZs. Und das Trom¬
peten-Thema, das am Ende des Satzes die Hoffnung auf einen
Funktionswechsel des Konzentrationslagers signalisieren soll
(T.45f.), wiederholt ein Motiv, das zuvor in den Bässen zu
hören war und die zitierte Beschreibung des NS-Lagers um¬
rahmt hat (T.1 u. T.19). Ist es dort von der Flatterzunge der
grellen Trompeten übertönt worden, erklingt es nun selber
mächtig im klar gewordenen Trompetenton und bestätigt mu¬
sikalisch den Sinn, das Lager umzufunktionieren; als könnte es
der Sinn des Kommunismus sein, daß die Reichen den Armen
die Stiefel putzen und nicht der, daß niemand mehr gezwungen
werde, des anderen Stiefel zu putzen. Obgleich Eisler, wenn er
die Umwidmung des Lagers musikalisch ausdrücken möchte,
die simple Wiederholungsstruktur der Strophenform nicht be¬
dient und gleichsam gegen sie komponiert, hinterläßt der Satz
durch diese besiegelnde Schlußwendung doch den Eindruck
einer ins Positive gewendeten Totalitarismustheorie.

Die nach Texten von Brecht und Ignazio Silone geschrie¬
bene Symphonie entstand im wesentlichen Mitte der dreißiger
Jahre — noch bevor die ersten direkten Maßnahmen zur mas¬
senhaften physischen Vernichtung der Juden eingeleitet,
Konzentrationslager zu Vernichtungslager wurden. Befremd¬
lich ist allerdings, daß Eisler, obwohl er das Werk erst in den
fünfziger Jahren abschloß — noch kurz vor seinem Tod be¬
zeichnete er es als sein bedeutendstes —, an dem eingeschränk¬
ten Blickwinkel auch später nichts Problematisches fand. Das
Wissen über die Shoah hinterließ keinerlei Spuren im Werk,
das Judentum kommt nicht vor. Dabei hat er damals die Musik
für Alain Resnais’ Dokumentarfilm über die Konzentrations¬
und Vernichtungslager Nuit et brouillard geschrieben; Paul
Celan bearbeitete die westdeutsche Fassung des Filmtextes
(von Jean Cayrol), in dem allerdings nur einmal von der jüdi¬
schen Herkunft der Opfer die Rede ist — und selbst in diesem
Fall wird nahegelegt, daß es sich bei Arbeitern und Juden um
Gruppen handelt, die im selben Maß von der Vernichtung be¬
droht gewesen wären.

Eisler fügte seiner Symphonie kurz vor der Uraufführung so¬
gar noch einen exkulpierenden Epilog (11. Satz) mit Brechts
Worten (aus der Kriegsfibel) hinzu: „Seht unsre Söhne, taub
und blutbefleckt / Vom eingefrornen Tank hier losgeschnallt: /
Ach selbst der Wolf braucht, der die Zähne bleckt, ein
Schlupfloch, / Wärmt sie, es ist ihnen kalt.‘ Die Trauer aber, die
in der Musik immer wieder durchbricht und ihr manchmal ei¬
nen für Eisler untypischen, gebrochen spätromantischen, Alban
Berg’schen Charakter verleiht, diese Trauer, die schließlich im
Epilog zu reiner a-moll hinführt, entsprang wohl weniger dem