ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT
Im Winter 1998/1999 zeigte Orpheus Trust im Wiener
Literaturhaus die Berliner Ausstellung zum 100. Geburtstag des
Komponisten Hanns Eisler: „s'müßt dem Himmel Höllenangst
werden“. Als Finissage fand am 10. Februar 1999 eine Ver¬
anstaltung unter dem Titel „Der blinde Fleck? Judentum und
Shoah bei Paul Dessau und Hanns Eisler“ statt, bei der Peter
Petersen (Hamburg) und Gerhard Scheit (Wien) referierten und
diskutierten. Im letzten Heft wurde der im Biographischen wie
im Analytischen vielgestaltige Vortrag von Peter Petersen über
Paul Dessau abgedruckt; nun folgt der eher thesenhaft gehal¬
tene Beitrag von Gerhard Scheit über Hanns Eisler.
Die Frage, was ein Werk - sei’s ein literarisches oder musika¬
lisches — nicht darstellt, kann mitunter ebenso wichtig sein wie
die, was es darstellt. Nicht selten macht gerade sie, die doch
den Inhalt im Auge hat, auf die ästhetische Form aufmerksam.
Die Themenstellung „Antisemitismus und Shoah bei Hanns
Eisler“ weist über den Horizont der bisherigen Eisler-Rezeption
hinaus, die sich seit einiger Zeit überhaupt im Kreis zu bewe¬
gen scheint. Das hängt vermutlich mit der Art und Weise zu¬
sammen, mit der ganz allgemein Kunst, Literatur und Musik
der Arbeiterbewegung heute rezipiert werden. Um der weithin
herrschenden Ignoranz zu begegnen, die seit 1989 auftrumpft
wie nie zuvor, verfallen die Kenner in die Haltung von Anbe¬
tung und Kult: Brecht, Eisler und Dessau als Ikonen — der
Untergang des Realen Sozialismus macht sie zu jenseitigen
Gestalten. Die Verehrer versetzen die Künstler in ein romanti¬
sches Verhältnis zur Gesellschaft. Der Film von Larry Wein¬
stein Solidarity-Song — The Hanns-Eisler-Story von 1996 ist
dafür charakteristisch: die kunstfeindliche Gesellschaft verfolgt
und malträtiert das Originalgenie, so etwa könnte das simple
Motto des virtuos gemachten Films lauten. Da interessiert es
kaum noch, daß Eisler zum Nationalsozialismus in einem etwas
anderen Verhältnis als zur DDR stand und sein kompositori¬
sches Schaffen — die Krisen ebenso wie die Höhepunkte — mit
dieser Differenz zu tun haben könnte. Dieses Verhältnis wäre
wiederum nicht davon zu trennen, daß Eisler mit seiner jüdi¬
schen Herkunft väterlicherseits vom Nationalsozialismus von
vornherein anderes zu gewärtigen hatte als in der DDR, obwohl
es auch hier Ansätze des Antisemitismus gab. Der Film jedoch
läßt die Musik der Deutschen Symphonie, die Eisler gegen den
Nationalsozialismus geschrieben hat, zu den Bildern der
Berliner Mauer erklingen, als handle es sich um Identität.
Das Vertrackte an dem Problem ist nun aber, daß Eislers
Deutsche Symphonie selbst dieser totalitarismustheoretischen
Ideologie Vorschub geleistet hat. Um dies zu erklären, muß ich
etwas weiter ausholen.
Der blinde Fleck der Arbeiterbewegung
Hanns Eisler und Bertolt Brecht teilten mit den meisten in der
Arbeiterbewegung Engagierten die Unfähigkeit, den Stellen¬
wert des Antisemitismus für die nationalsozialistische Herr¬
schaft zu begreifen. Diese Unfähigkeit reicht von dem Stück
Die Rundköpfe und die Spitzköpfe bis zur Deutschen Sym¬
phonie, und sie hat etwas mit dem Konzept des Klassenkampfs
zu tun, das Brecht und Eisler aus der Weimarer Republik ins
Exil mitnahmen, und das sie daran hinderte, den National¬
sozialismus als eine neue Form von Herrschaft wahrzunehmen
— wie dies etwa den, von Brecht so verabscheuten, Intel¬
lektuellen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, die
sich in der Emigration auch vom Klassenkampf-Konzept ver¬
abschiedeten, wenigstens zum Teil gelang.
In Die Rundköpfe und die Spitzköpfe treten sich die Klassen
als Grundbesitzer und Bauern gegenüber, und der Rassismus
gegen die Rundköpfe (der den Antisemitismus meint) wird als
bloßer Trick der Großgrundbesitzer durchschaut, mit dem die
Front der Bauern gesprengt werden soll. Nach demselben
Schema verläuft in der Deutschen Symphonie von Eisler die
Konfrontation der Klassen: in der Arbeiterkantate, dem 9. und
längsten Satz der Symphonie, heißt es nach Brechts Worten
(die Eisler bereits 1933 in anderer Form vertont hatte): „Wir
sind Klassenfeinde, Trommler! / Das deckt dein Getrommel
nicht zu! / General, Fabrikant und Junker / Unser Feind, das
bist du! / Da mag euer Anstreicher streichen, / Diesen Riß
streicht er uns nicht zu! / Einer bleibt und der andre muß wei¬
chen, / Entweder wir oder du / Das Wort wird nicht gefunden,
/ Das uns beide je vereint (...).“
Das Wort aber war lang schon gefunden — und es war kei¬
ne bloße Propagandaformel. Antisemitismus wird nicht einfach
propagiert wie irgendeine andere Moral oder Ideologie, son¬
dern bietet sich in einer vom Kapital strukturierten Welt als
Inhalt einer bestimmten Subjektform gleichsam von selber an
— den Bürgern wie den Arbeitern. Allerdings bedarf es dann
immer noch der Entscheidung des einzelnen, das Angebot aus¬
zuschlagen. „Die Juden“, schreibt Moishe Postone, „wurden
nicht bloß als Repräsentanten des Kapitals angesehen (in die¬
sem Fall wären die antisemitischen Angriffe wesentlich klas¬
senspezifischer gewesen), sie wurden vielmehr zu Personifi¬
kationen der unfaßbaren, zerstörerischen, unendlich mächti¬
gen, internationalen Herrschaft des Kapitals.“ Was Marx mit
dem Wert auf den Begriff brachte, die real abstrakte Dimension
dieser Herrschaft, ist ebenso unbedingte Voraussetzung wie un¬
bewußter Gegenstand antisemitischer Personifikation. Mit
ihrem einfachen Klasse-gegen-Klasse-Konzept, wonach das
Kapital ein von der herrschenden Klasse beliebig handhabba¬
res, durchaus konkretes Instrument zur Ausbeutung darstelle,
übersehen Brecht und Eisler — und mit ihnen ein großer Teil
der sozialdemokratischen und kommunistischen Linken — die¬
se besondere Affinität des antisemitischen Bewußtseins zur
Fetisch-Konstitution des Kapitals. Sie unterschätzen damit sy¬
stematisch das Gewaltpotential, das es im Zuge kapitalistischer
Krisen freisetzen kann.
In seiner Deutschen Symphonie (op. 50), die ursprünglich
Konzentrationslager-Symphonie heißen sollte, gestaltete
Hanns Eisler nun das Verhältnis von NS-Staat und deutscher