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Katerina, der Geschichte einer katholischen Bauerntochter, ei¬
ner Ruthenin, die lange vor dem Krieg Arbeit bei einer jüdi¬
schen Familie gefunden hatte, wegen deren Verarmung das
Haus verlassen mußte und durch schicksalhafte Begebenheiten
selbst Opfer und Täterin wurde. Sie blickt als alte Frau zurück
und verharrt dabei in der Meinung, es gebe auf der Welt keine
Juden mehr, die sie aber aus ihrer Sicht in ihren Erzählungen
wieder auferstehen läßt.’

Mit dem Geschehen des Holocaust verbunden ist auch der
Roman Tzili, der das Schicksal eines ungeliebten, geistig be¬
grenzten Mädchens zum Gegenstand hat, das man im Hause
zurückläßt, als die Familie vor den Deutschen flüchten muß,
das aber gerade wegen der einfachen Strukturen ihrer fast na¬
turhaften Persönlichkeit überlebt.’ Immer wieder begegnen wir
in Appelfelds Erzählungen Menschen, die zwar überlebt haben,
aber das nie mehr rückgängig zu machende Signum tiefer Ver¬
sehrtheit mit sich tragen, wie etwa in den Erzählungen Berta°
oder Der unsterbliche Bartfuß’ oder — noch nicht ins Deutsche
übersetzt — Bahngeleise.‘ Auf dem Hintergrund dieses Gesche¬
hens bewegen sich Appelfelds Figuren, stehen in seinem Schat¬
ten. Im Tun und Sagen seiner Menschen - sie bilden eine Palette
von großer Vielfalt — spiegelt sich immer wieder die schmerz¬
lich-selbstkritische Auseinandersetzung mit der Problematik
des Holocaust, die Fragen nach dem Warum des Geschehens,
die Frage nach seinem Sinn — quälende Fragen, auf die es kei¬
ne Antwort gibt, aber die Appelfeld schonungslos stellt.

Über den Holocaust gibt es viele Zeugnisse. Es sind
Memoiren, Aufzeichnungen, Tagebücher (Anne Frank), per¬
sönliche Berichte, wie wir sie im großen Filmepos Shoah von
Claude Lanzmann erleben. Es gab auch historische, politische,
soziologische, philosophisch-theologische Darlegungen. Die
Motivation für diese schriftlichen und filmisch festgehaltenen
Zeugnisse war vielfältig. Einmal ging es darum, Zeugnis ab¬
zulegen von dem, was man gesehen und erfahren hatte; über
die eigene Leidenserfahrung zu berichten; Toten ein Denkmal
der Erinnerung zu setzen, um sie vor dem Vergessen zu be¬
wahren; den Menschen im Sinne einer Warnung vor einem
künftigen neuen Genozid ein Zeichen zu setzen. Was solchen
Dokumenten gemeinsam ist: sie vermögen kaum Distanz her¬
zustellen zwischen dem Geschehen und dem, der durch dieses
hindurchgegangen ist. Distanz aber ist nötig, wenn es darum
geht, dieses besondere Vergangene literarisch zu bewältigen.
Es braucht eine zeitliche Trennung zwischen dem Erleiden und
seiner schöpferischen Verarbeitung. Und eine weitere Voraus¬
setzung ist: das Geschehen nicht nur als den kollektiven Vor¬
gang der Ermordung von sechs Millionen Juden darzustellen,
sondern den Einzelnen herauszuheben, der als Subjekt eine
Erfahrung durchlaufen mußte, die außerhalb eines vernünfti¬
gen Begreifens und der Möglichkeit seelischen Verarbeitens
steht. Erst dann öffnet sich die Möglichkeit, das zu vermitteln,
was sich bei einem einzelnen Menschen, der durch dieses
Geschehen hindurchgegangen ist, in der Tiefe seiner Seele
vollzogen und das spätere Leben des Opfers bestimmt hat.

Auch Appelfeld hatte die Absicht, über seine Fluchtjahre in
den Wäldern Memoiren zu schreiben, gab das Unternehmen
aber nach unzähligen unbefriedigenden Versuchen auf. Die
Verarbeitung seiner Erinnerungen gelang ihm erst in der Form
der Erzählung. Sie schuf die Möglichkeit, sein Erleben in
Perspektiven zu bringen, die ihn vom Zwang befreiten, einem
äußeren Ablauf von Erinnerungen zu folgen. Sie gab ihm jene
Distanz, die es überhaupt erst ermöglichte, Erinnertes abzuru¬
fen und in eine literarische Form zu fassen. Ein Beispiel dafür

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ist der schon erwähnte Roman Tzili. Er ist die autobiographi¬
sche Verarbeitung jener Zeit, da der Autor, von seinen Eltern
gewaltsam getrennt, als Kind die Wälder seiner Heimat durch¬
streift. Er gewinnt Distanz, indem er seine Erinnerungen nicht
in einen Erlebnisbericht faßt, sondern in einen literarischen
Text verarbeitet. Und um die Distanz noch zu vergrößern,
wählt er als Hauptfigur ein Mädchen. Der so gewonnene
Abstand macht es möglich, ein Einzelschicksal aufzugreifen
und es zu einem Symbol für ein Kollektiverleben zu machen.

Distanz schafft Appelfeld aber auch, indem er für die li¬
terarische Verarbeitung nicht die Form der reinen Erzählprosa
wählt mit Figuren, die in einer Folge von Ereignissen in einer
bestimmten Zeit und an bestimmten Orten handelnd voran¬
schreiten, in Beziehung treten zueinander und mit einer realen
Umwelt. Seine Ausdrucksform ist die lyrische Prosa. Hier sind
die Handlungen sehr knapp und beugen sich nicht zeitlichen
und auch geographischen Abläufen. Diese Ausdrucksform ent¬
zieht sich der Vergegenständlichung und schafft mit ihrer
Metaphorik eine tiefere Dimension, eine Intensivierung des
Gefühls, eine Qualität, die leider in der Übersetzung oft leidet.
Die Entzifferung der Metaphern verlangt vom Leser Mitarbeit.
Er muß offen bleiben und bereit sein, seine Emotionen nicht zu
schonen. Ein Beispiel: Tzili, nachdem Mark, der sie eine
Zeitlang begleitet und von dem sie ein Kind in sich trägt, sie
eines Tages wieder verlassen hat, breitet die Kleider aus, die er
ihr von seiner im Holocaust umgekommenen Familie zurück¬
gelassen hat; sie werden für Tzili zum Mahnmal ihrer Träger,
zu einem Haufen verloschener Biographien:

Tzili öffnete den Rucksack, um die Kleidungsstücke zum
Trocknen auszubreiten. Ihr waren noch zwei lange Kleider, ein
Kostüm, ein Paar Kinderhosen, das Küchenmesser, das Mark
zum Bau des Unterschlupfes benutzt hatte, und zwei Bücher
geblieben. An der Größe der Kleider konnte Tzili erkennen,
daß Marks Frau groß und schlank und die Kinder etwa fünf
Jahre alt und ebenfalls dünn gewesen waren. Außerdem fiel ihr
auf, daß die Kleider hochgeschlossen waren, was bedeutete,
daß sie aus einem religiösen Haus stammten. Das Kostüm war
einfarbig, ohne Blumen oder irgend ein Muster. Sie betrachte¬
te die leblosen Stücke, schien sie zum Sprechen bringen zu wol¬
len. Von Zeit zu Zeit berührte sie die Stoffe, um sie zu befühlen.
Es herrschte tiefes Schweigen um sie herum.

Appelfeld gelingt es, die Not seiner Figuren auf den Leser
zu übertragen. Dieser wird so eingeholt in den Nachvollzug
dessen, was sich bei einem einzelnen Menschen, der durch die¬
ses Geschehen hindurchgegangen ist, vollzogen und was sein
späteres Leben bestimmt hat. Es stellen sich dann auch be¬
drängende Fragen nach dem Menschen schlechthin, nach dem
Sinn des Lebens überhaupt, aber auch nach dem, was es im be¬
sonderen heißt, Jude zu sein, ja, Mensch zu sein.

Appelfelds Figuren sind keine Helden. Er überhöht ihr
Leiden nicht. Im Gegenteil, er lehnt sich gerade in den vielen
Erzählungen, in denen das Leiden eines Menschen zum zen¬
tralen Thema wird, auf gegen jede Ideologisierung des Lei¬
dens. Es kann für ihn nicht die Quelle des Guten sein. Es
läutert nicht, sondern kann erbärmlich und widerwärtig wer¬
den. Wir finden diesen Gedanken einmal im Bericht des Titel¬
helden im Roman Der unsterbliche Bartfuß:

Ein Jahr hatte der Marsch gedauert zu jenem kleineren La¬
ger, das für sein Grauen bekannt gewesen war. Unterwegs wa¬
ren ihm viele Gesichter begegnet, doch kein einziges, das einem
menschlichen Wesen ähnlich sah. Ausgehungert und in
Waggons gepfercht, hatte sich ein jeder dem andern verschlos¬