OCR Output

diese Zeit gehört ihm zur Gänze. Der Raum kann ihm einge¬
schränkt und auf eine Einzelzelle reduziert werden, was im
Prinzip unangenehm ist, aber die Zeit kann ihm nur der Tod
nehmen. Solange der Mensch lebt, gehört ihm die ganze Zeit.
Er ist ein Krösus, ein Millionär, ein Herrscher über einen un¬
ermeßlichen Reichtum! —

Fleischmann sitzt im Schein einer Kerze auf einem Balken,
er zeichnet in seinen Notizblock und spricht, was er denkt, laut
vor sich hin. Die Balken, die sich kreuzende Verstrebung, das
schräge Dach des Dachbodens, die kleinen Fensterchen — die
Menschen am Boden auf den Matratzen, die Transport¬
nummern auf den Koffern -, so skizziert er, im Viertelprofil,
mit verschlungenen Linien und wie ein Stickmuster den abge¬
schrägten Raum: Menschen, in Lumpen gewickelte Papier¬
rollen... — die Herrscher über die blinde Zeit sehen einander
nicht, gedenken ihrer nicht... Wozu auch das Gedächtnis be¬
lasten, wenn unsere Vernunft leck und das Bewußtsein leer ge¬
worden ist?

„Hört bitte“, wendet sich der Doktor Fleischmann an die
Blinden, „mit euch redet ein Sehender, ein Mensch, der euch
gegenüber im Vorteil ist. Dennoch ist mein Weg zu euch
schwer, geradezu unwegsam. Der Schlagbaum an der Grenze
zwischen Licht und ewiger Dunkelheit ist heruntergelassen.

Ich sehe euch auf ungehobelten Brettern sitzen, die von ei¬
nem Menschen gemacht wurden, der nicht mit dem Zim¬
mermannshandwerk vertraut ist, von einem Menschen, der
nicht nur diese Bänke zusammengezimmert, sondern den
ganzen Dachboden in einen Vortragssaal verwandelt hat, in eine
Theaterbühne, damit die bedauernswerten Juden zumindest für
einige Stunde ihr unglückliches Schicksal vergessen können.
Irgendwann einmal haben die Bewohner hier unter diesem
Dach ihre Wäsche getrocknet und ihren Plunder abgestellt.

Die Transporte kamen... und die Dachböden wurden be¬
siedelt, alles Unnütze wurde in aller Eile hinausgeworfen,
Trennwände wurden niedergerissen... Ich habe hier Unheil,
Schmerz und Unglück erfahren... Ich sehe Schmutz, verzerr¬
te, deformierte Glieder, entblößte, in der Sommerhitze zusam¬
mengeschrumpfte Körper, ich sehe die Wände mit dem
heruntergefallenen Putz, die Nägel, an denen armselige Unter¬
wäsche hängt, gestreifte Matratzen... Ich sehe todmüde
Krankenschwestern und einen traurigen, verzweifelten Arzt...

Und ich sehe noch etwas. Ich sehe die ganze Stadt, sehe sie
in ihrer einstigen, normalen Gestalt mit Geschäften, Büros und
Kinotheatern, eine Stadt, in der wie in jeder Stadt der Welt
Frauen und Kinder lebten...

Doch dann entsteht vor mir plötzlich das tote, blutleere
Gesicht der Stadt; ein Gespenst ist die Stadt, man hat die
Einwohner ausgewiesen, im Nu ist alles leer geworden... und
den verödeten Raum hat man mit uns angefüllt...

Ich sehe alles, was ihr nicht seht — Höfe, Hallen, Arbeiter
mit traurigen Augen, verwilderte Gärten. Lastautos mit Kran¬
ken und Verstümmelten. Die armseligen Bataillone der
Ankommenden, niedergeschlagene Menschen bei den
Hydranten, das Grauen der Lagerrazzien — behende Diebe tän¬
zeln, stülpen die Taschen um, durchwühlen die Sachen der un¬
glücklichen marionettenhaften Neuankömmlinge...

Und nun schließe ich die Augen und versetze mich in eure
Situation. Man hat euch gepackt und in Waggons gepfercht,
man hat euch angeschrien, und dann hat man euch an einen an¬
deren Ort gefahren, und wieder hat man euch angeschrien und
ist übel mit euch umgesprungen. Die Stimmen um euch her

68

veränderten sich. Das Essen, das Bett, der Tagesablauf - alles
ist anders geworden.

Man muß über moralische und geistige Kraft verfügen, um
diese Veränderung ertragen zu können... Ich frage euch
Blinde, euch, die ihr durch euer Unglück davor bewahrt wor¬
den seid, die Fülle der niederträchtigen, häßlichen, schmutzi¬
gen Dinge mit Blicken wahrzunehmen. — wie, auf welche
Weise bringt ihr es fertig, nicht die menschliche Würde zu ver¬
lieren?!“

Die Kerze ist herunter gebrannt. Doktor Fleischmann ver¬
stummt und schämt sich seines Monologs... Er begreift nicht
mehr, was er zu wem gesprochen hat... vielleicht ist es besser,
zu schweigen, kein Wort zu vergeuden. Wie aber soll man denn
mit Blinden reden?

Er stolpert, wäre abermals gestürzt, hätte sich ihm nicht in
der Dunkelheit eine Hand hingestreckt. „Halten sie sich an
mich, Doktor Fleischmann“, hört er dicht neben seinem Ohr,
„hier etwas vorsichtiger, bitte. Gute Nacht...“

So gelangt der Arzt, von einem blinden Blindenführer ge¬
leitet, wieder an die Treppe. Die Luft macht schwindlig.
Vorsichtig bewegt Fleischmann sich auf diese Luft zu. Den
Weg draußen beleuchtet der Mond.

Hugo Friedmann schreibt einen Bericht über die Tätigkeit der
Bibliothek.

Hugo Friedmann wird in der Zentralbibliothek des Ghettos von
der Finsternis überrascht, allein, inmitten von sechsundvier¬
zigtausend Büchern. Alles umsonst. Hier darf man nichts ein¬
ebnen. Er gedachte das Gesuch zu beenden, die Frau und die
Tochter aufzusuchen, irgend etwas zu sich zu nehmen, wenn
bei ihnen noch etwas übrig geblieben war, und dem Sohn im
Krankenhaus einen Besuch abzustatten... Statt dessen muß er
nun einen dringenden Bericht über die Bibliotheksbestände an¬
fertigen. Ein Auftrag vom Chef.

„Cito!“ Professor Dr. Utitz ist nach oben gerufen worden.
Vielleicht wegen der fehlenden Bücher? Deshalb ist hier alles
verdunkelt. Ist Eichmann gekommen? Man weiß doch, daß ihn
Bücher über den Judaismus fesseln — schon in seiner Jugend
hat er Hebräisch gelernt...

Mit gewohnter Geste ertastet Hugo in der Tischschublade
eine Kerze und Streichhölzer. Irgendwann wird die Ghetto¬
wache kommen und befehlen, die Kerze wieder auszublasen.
Die brennende Kerze in der Hand betritt er wie eine Art Römer
das Kabinett des Chefs, stellt die Lichtquelle in gebührender
Weise auf das Regal, spannt einen Bogen Papier in den Wagen
der Schreibmaschine und beginnt ohne lange nachzudenken:

„Der jüdische Teil der Bibliothek ist hervorragend! Grund¬
lage bilden die Bücher über die Bibel — Exegetik, Homiletik
(Wissenschaft über die Predigten und die Rhetorik), die prote¬
stantische und katholische Theologie, Bibelübersetzungen in
die Hauptsprachen und Arbeiten der wichtigsten Übersetzer
und Kommentatoren.

Das Gebiet der Philosophie ist am umfangreichsten vertre¬
ten: die religiöse Philosophie des Judaismus, des Christentums
und des Islam. Schlechter steht es mit der allgemeinen Philo¬
sophie. Die Klassiker sind bis auf Hermann Cohen in guten,
aber veralteten Ausgabe vorhanden. Zeitgenössische Philo¬
sophie ist nicht vorhanden.

Originale existieren in Latein und Griechisch plus Wörter¬
bücher und die Lehrliteratur in alten und zeitgenössischen