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Sprachen. Wenig Literatur in den europäischen Hauptsprachen.
Englisch: Belletristik und viel Judaistik aus den USA. Fran¬
zösisch: einige belletristische Bücher und eine Geschichte des
Judentums. Einige Bücher auf Italienisch, Deutsch, Norwe¬
gisch und viel ungarische Klassik. Bücher auf Tschechisch gibt
es, was am meisten bedrückt, gar nicht. Viele Arbeiten auf
Persisch, Arabisch und Türkisch über Orientalistik und meh¬
rere syrische Texte.

Judaistik: alte und neue Historiker in einer Fülle von
Exemplaren. Jüdische Literaturwissenschaft, eine Vielzahl von
Büchern zur Weltgeschichte, von der alten bis zu neuesten.
Jüdische Geschichte.

Es fehlt an Büchern über Physik, Chemie, Mathematik,
Technik, Naturwissenschaften und Geographie. Dafür gibt es
eine Menge von Büchern zu Handwerken und populärer
Medizin sowie Kochbücher. Es mangelt, was sich im Ghetto
besonders bemerkbar macht, an Tagebuch- und Memoiren¬
literatur. Es sind auch wenige Bücher über die Geschichte der
Musik, der Literatur und der Künste vorhanden. Doch gibt es
Malermonographien und grundlegende Werke. Und auch eine
würdige Sammlung von Literatur über die Kunstgeschichte des
jüdischen Volkes ist vorhanden.

Eine Vielzahl jüdischer Periodika (ein großer Teil dessen,
was publiziert worden ist), Ausgaben der deutschen jüdischen
Institute (auf Deutsch), Jahresberichte der Rabbinerseminare
Deutschlands, Österreichs und Ungarns, Berichte von fast al¬
len jüdischen Vereinigungen in Deutschland, unikale Ausgaben
des literarischen Jahrbuches Deutschlands.

Die jüdische Abteilung ist die in allen Hinsichten wichtig¬
ste — über 12.000 Bände. Sie umfaßt Werke der antiken jüdi¬
schen Philosophie, die wichtigste Rabbiner-Literatur und
zahlreiche Zeitungen in Hebräisch und Jiddisch. Fazit — sie ist
eine der wichtigsten Bibliotheken Europas.“

Im Weiteren entsteht nun allerdings die Frage, ob man dar¬
auf hinweisen soll, daß von den einst 60.000 Büchern der
Bibliothek heute nur noch 48.000 vorhanden sind? Wie wird
man das beurteilen? Mag Utitz das entscheiden.

„Den Grundbestand bilden die Quellen: Bibliothek bei der
Behörde für Minderjährige, Hilfe der Verwaltung, Reste priva¬
ter deutsch-jüdischer Bibliotheken Prags und Brünns, Wan¬
derbibliothek der Sammlung der preußischen Landsmann¬
schaft, Bibliothek des jüdischen Kulturvereins Deutschlands,
Bibliothek des Lehrinstituts für Judaisitk-Forschung in Berlin.“

Der Verlust von Büchern bedrückt Hugo Friedmann. Viel¬
leicht deshalb, weil seine eigene reiche Bibliothek, eine ein¬
zigartige Sammlung, einschließlich der Erstausgaben nebst
Hunderten von Bildern und Skulpturen, beschlagnahmt worden
ist. Desgleichen die Textilfabrik! Nun, nach der Fabrik hat er
keine sonderliche Sehnsucht. Hätte er sie nicht gewissermaßen
als Zugabe mit seiner Frau bekommen - er wäre ein professio¬
neller Kunstwissenschaftler geworden. Aber ohne den Reich¬
tum hätte er kein Sammler werden können — nun ohne seine
Kollektion. Nackt kommt man auf diese Welt, nackt verläßt
man sie auch wieder... Aber vermutlich läßt sich die jüdische
Weisheit nicht auf alle ausdehnen... Was kann man tun, damit
die Bücher nicht verlorengehen? Jemand nimmt sie mit auf den
Weg, auf den Transport, und vergißt möglicherweise, sie
zurückzuschicken, oder die Bücher gehen dort von Hand zu
Hand. Mag sein, in den neuen Lagern im Osten gibt es keine
Bibliothek oder Postsendungen von dort gehen verloren?! Wer
weiß, wie es dort ist... Aufhören, die Bücher zu verleihen? Wie
aber soll man dann all die Wißbegierigen und Wissensdurstigen

in der Bibliothek unterbringen? Wäre das gerechtfertigt? Wenn
man liest, legt sich der Hunger und man fühlt sich nicht mehr
so schlecht... Nichtsdestoweniger sollte man da zu irgendeiner
Entscheidung kommen, zu einer vernünftigen Beschränkung.
Fachliteratur beispielsweise nur an vorgebildete Personen aus¬
geben, die ein berufliches Interesse daran haben. Andernfalls
wird alles in alle Winde zerstreut. Die Aus- leihe mit Takt ver¬
weigern. An die Jugend die Klassiker ausleihen.

„Für die professionelle Arbeit bietet die Bibliothek an: lexiko¬
graphisches und enzyklopädisches Material, Atlanten, kunst¬
geschichtliche Chrestomatien, Zeitungen, Werke über die
Kunst, die Lyrik und die Dramaturgie, Nachschlagewerke über
die deutsche und die Weltliteratur, Herbariumzeichnungen...“

Diese Ausgaben niemandem mitgeben!!!

„Es gibt auch bibliophile, in Holz und Messing gefaßte
Ausgaben aus dem 16. und 17. Jahrhundert, darunter auch jü¬
dische Bücher... „Diese Raritäten auf keinen Fall anrühren.

„Mit der Zentralbibliothek sind auch andere Bibliotheken
des Ghettos verbunden: die Bibliothek für die Jugend in der
HV, die medizinische Zentralbibliothek in Hohen Elba, eine
technische Bibliothek im WAP, die jüdische Jugendbibliothek,
eine Lesezirkel, geschaffen und geleitet von Hanna Weil (1.500
Bände). Einen Zirkel mit Buchausgabe über Ökonomie und
Soziologie hat Dr. Simonsohn eingerichtet.

Die Bibliothek wird mit der Zeit vermutlich zur größten jü¬
dischen Bibliothek in Europa und in der ganzen Welt werden.“
So wird es sein! Wo, an welchem Ort des Planeten, sind je so
viele Fachleute für jüdische Genealogie, die hebräische Spra¬
che und Judaismus zusammengebracht worden!

Es sind zwei eng beschriebene Seiten geworden. Morgen
wird der Chef sich aufregen. — Wieder ohne Leerzeile?! „Herr
Friedmann, werfen sie nicht Perlen vor einen koscheren Juden,
ich werde ihretwegen noch erblinden!“ Aber sich erlauben, eine
Leerzeile zu setzen, wenn die eigene Tochter Lili auf Fetzen
von Toilettenpapier zeichnet?! Würde man zu ihm kommen und
ihm anbieten, ein seltenes Buch gegen eine gekochte Kartoffel
einzutauschen... Eine gekochte... Hugo Friedmann kneift bei
diesem verführerischen Gedanken die Augen zusammen und
versinkt in der Dunkelheit. Ohne daß er es bemerkt hat, ist die
Kerze herunter gebrannt... Das ist das Inferno! Und er selbst ist
ein kleiner Teil der Finsternis, ist mit ihr zusammengeflossen.
Aber noch hört man seinen Atem, den Schlag seines Herzens.

Die Finsternis ereilt die Menschen an verschiedenen Orten und
in verschiedenen Situationen. Und Menschen gibt es zu dieser
Zeit im Ghetto genauso viele wie es Mitte des vorigen Jahr¬
hunderts in der Zentralbibliothek Bücher gab, das waren gegen
sechzigtausend. Und die Bücher verschwinden aus dem
Ghetto wie die Menschen, und so unbekannt wie der Ort des
Verschwindens der Bücher ist auch der Ort des Dahinschwin¬
dens der Menschen... Die Stadt, über deren Architektur Hugo
Friedmann ein Buch zu schreiben beabsichtigt, ist in der Tat
nicht groß, man kann sie in maßvollem Schritt in einer Stunde
umschreiten. Über vierzigtausend Menschen drängen sich hier
und füllen den ganzen zum Leben möglichen Raum mit sich
aus. Das heißt, daß sich die Finsternis auf sie alle nieder senkt,
und nur wenige bleiben in ihr allein.

In dieser Stadt verbreiten sich die Gerüchte in geschwindem
Lauf, und hat der Bettnachbar auf dem Abort von jemandem
erfahren, daß das Licht wegen einer Flucht abgeschaltet wor¬
den ist, verbreitet sich das sofort durch das ganze Haus. Alle

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