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Zusammenstellung vieler fragmentarischer
Informationen zu einem übersichtlichen Gan¬
zen. So sind beispielsweise die Korrespon¬
denzen der Briefpartner echte Funde, gerade
weil Marlen Haushofer mit ihren Briefen weit
weniger respektvoll umgegangen ist und da¬
mit wichtige Quellen verloren gingen. Allein
mit einigen psychologisierenden Deutungen,
die das Verhältnis des Kindes Marlen zur
Mutter charakterisieren sollen, begibt sich die
Germanistin zeitweise auf sehr dünnes Eis.
Der Knochenkrebs setzte dem Leben Marlen
Haushofers, „‚die zerrissen war zwischen ihrer
Sehnsucht zu schreiben und dem Anspruch,
eine perfekte Ehefrau und Mutter zu sein“, ein
frühes Ende. Als Vermächtnis hinterließ sie
diese Zeilen:
Mach Dir keine Sorgen. Du hast zuviel und zu
wenig gesehen, wie alle Menschen vor Dir.
[...] Vielleicht hast Du zuviel geliebt und ge¬
haßt [...]. Dann war ein Teil von Dir tot [...].
Du hast viele Schmerzen ertragen, ungern —
wie alle Menschen vor Dir. Dein Körper war
Dir sehr bald lästig. Du hast ihn nie geliebt.
[..] Mach Dir keine Sorgen — alles wird ver¬
gebens gewesen sein — wie bei allen Men¬
schen vor Dir. Eine völlig normale Ge¬
schichte.
Zwanzig Jahre nach ihrer Neuentdeckung
scheint Marlen Haushofers Platz in der öster¬
reichischen Literaturgeschichte gesichert, und
betrachtet man die Liste des kürzlich in der
Zeitschrift Profil präsentierten „österreichi¬
schen Literatur-Kanons“, findet sich die
Autorin mit ihrem Roman „Die Wand“ als er¬
ste (!) Frau an 38. Stelle wieder und tritt damit
nachhaltig aus dem Schatten einer Ingeborg
Bachmann oder Ilse Aichinger, die in dieser
Aufstellung nicht einmal vertreten sind. Daß
Marlen Haushofer ebenso vom Lesepublikum
„neuentdeckt“ wird, liegt auch an Daniela
Strigls Biographie — es ist eben keine völlig
normale Geschichte.

Michael Hansel

Daniela Strigl: Marlen Haushofer. Die Bio¬
graphie. München: Claassen Verlag 2000.
397 S. Euro 23,70. Neu erschienen: Taschen¬
buchausgabe im Ullstein Verlag (Euro 10,30).

Die Redaktion der ZW gratuliert Daniela
Strigl, deren Buch über Theodor Kramer
(„Wo niemand zuhaus ist, dort bin ich zu¬
haus“. Theodor Kramer. Heimatdichter und
Sozialdemokrat zwischen den Fronten. Wien,
Köln, Weimar 1993) neue Standards der lite¬
raturwissenschaftlichen Kramer-Rezeption
setzte, zum Österreichischen Staatspreis für
Literaturkritik 2002.

Absurdes Theater

Über Evelyn Deutsch¬
Schreiners Studie zum Theater
im ‚Wiederaufbau’

Der wissenschaftliche Werdegang und die
neue Arbeit der Autorin bilden eine schöne

Widerlegung der „Stunde Null“: Evelyn
Deutsch-Schreiner hat vor zwanzig Jahren
über die „Nationalsozialistische Kulturpolitik
in Wien“ dissertiert — die erste große Arbeit
überhaupt zu diesem Thema, faktenreich und
detailliert, die leider nie zu einem Buch um¬
gearbeitet worden ist. Nun legt sie die erste
große Studie zum Thema Politik und Theater
im österreichischen „Wiederaufbau“ vor —
und diese als Habilitationsschrift eingereich¬
te Arbeit ist nun zum Glück auch erschienen.
Sie bestätigt damit auf dem Gebiet der Kultur
und des Theaters, daß über die Nachkriegszeit
nur etwas sagen kann, wer über den Natio¬
nalsozialismus spricht.

Den Fluchtpunkt der ganzen, empirisch breit
abgestützten kulturgeschichtlichen Studie bil¬
det also die Frage, in welchem Verhältnis das
Theater und seine Proponenten zur NS-Ver¬
gangenheit stehen, vor allem zur „Beteiligung
an der Vertreibung und Vernichtung der jüdi¬
schen Bevölkerung“. Vor diesem Fluchtpunkt
untersucht die Autorin nicht nur sehr diffe¬
renziert die größeren ideologischen Apparate
wie Burgtheater, Volkstheater und Neues
Theater in der Scala, sondern auch die kleinen
Formationen etwa der katholischen
Spielschar oder Otto Tausigs „Theatergruppe
Jura Soyfer“; sie beschränkt sich nicht allein
auf Theater im engeren Sinn, bezieht vielmehr
auch gewerkschaftliches Massenspiel und
Katholikentag mit ein. Der weitgehend
erfolgreiche Ausschluß der Exilanten und die
Zurückdrängung der Remigranten — in den
fünfziger Jahren vor allem durch die Ideo¬
logie des Kalten Kriegs und des Anti¬
kommunismus befördert — und die Durch¬
setzung einer bestimmten Österreich-Ideo¬
logie wird auf diese Weise in vielen, heute ge¬
radezu absurd erscheinenden Details her¬
ausgearbeitet.

Gerade die Details sind das Aufschlußreiche.
Denn es war auf seine Art ein wirklich absur¬
des Theater, das hier — mit weinigen Aus¬
nahmen — nach der Shoah eröffnet wurde:
„Das Bild vom musischen, mit barocker
Spielfreude ausgestatteten österreichischen
Menschen, der schon von seinem Wesen her
resistent gegen den Nationalsozialismus ge¬
wesen sei, diente dem Verleugnen jeder
Mitverantwortung am NS-Regime, an der
Shoah und am Krieg.“ Und es wurde auf vie¬
len verschiedenen Bühnen inszeniert. Die
Autorin strukturiert das geschichtliche
Material weniger nach ästhetischen Gesichts¬
punkten als nach den Maßgaben der Zeit¬
geschichte und Politikwissenschaft. Sie
analysiert vor allem „den Einfluß und die
Auswirkungen des politischen Systems im
Nachkriegs-Österreich auf die Theater¬
landschaft.“

Die bestimmenden Faktoren — die einzelnen
politischen Parteien, die Besatzungsmächte
und die katholische Kirche — versuchten auf
die Theater Einfluß zu nehmen und starteten
regelrechte „Theateroffensiven“, um ihr je¬
weiliges Kultur- und Menschenbild durchzu¬
setzen. Allerdings entpuppten sich diese

Offensiven, gestartet am Vorabend des
Fernseh-Zeitalters und der Kapitalisierung der
Freizeit, sogleich als Rückzugsgefechte einer
überholten ideologischen Praxis. Angesichts
der hereinbrechenden Kulturindustrie wirken
die Formen, in denen das Kultur- und Men¬
schenbild durchgesetzt werden sollte, hoff¬
nungslos veraltet, selbst die US-amerika¬
nische Variante. „In den späten vierziger und
fünfziger Jahren waren alle politisch Han¬
delnden überzeugt, daß Theater ein geeignetes
Medium für die Beeinflussung und Erziehung
der Menschen sei.“ Es war eine Zeit des
Übergangs, „als alte ideologische Zuordnun¬
gen noch funktionierten, obwohl der Prozeß
der Aufweichung schon im Gange war. Mit
der Ästhetik der Vergangenheit ging es in die
neuen Zeiten [...].“

Besonders einprägsam wird das durch die
letzten Ausläufer der sozialdemokratischen
Massenfestspiel-Kultur dokumentiert. Eine
Abbildung des Wagens „Nacht über Öster¬
reich“ aus dem großen ÖGB-Festzug zur
Feier des 60. Jahrestages der Gründung der
Gewerkschaften zeigt, wie man im Stil der al¬
ten Arbeiterkultur Faschismus und National¬
sozialismus darstellbar machen wollte: Auf
einem niedrigen Wagen ist ein ca. 2,5 Meter
hohes schwarzes Trapezoid aufgebaut, auf
dem in großen Lettern „Österreich“ steht; es
ist wie ein Paket mit Stacheldraht einge¬
wickelt, oben sind zwei Galgen angebracht,
am Ende des Wagens ein KZ-Wachturm.
Evelyn Deutsch-Schreiner findet gerade die
„konstruktivistische‘“ Darstellungweise als
Lésung — sozusagen im Rahmen der
Möglichkeiten — „bezwingend“. Aber dieser
Konstruktivismus ist als Lösung so wenig be¬
zwingend, als es — wie ich denke — im Rah¬
men eines Festzugs überhaupt keine Dar¬
stellung des Nationalsozialismus geben kann.
Als Wagen Nr. 33 läßt hier die Sozialde¬
mokratie den Nationalsozialismus an den am
Straßenrand zuschauenden Österreichern vor¬
beirollen: Geschichte wird fahrbar gemacht,
damit Erfahrungen nicht zu Bewußtsein kom¬
men. Gleich hinter „Nacht über Österreich“
folgen die Wagen Nr. 34 und 35: „Wie Phönix
aus der Asche“ und „Wiederaufbau“. Zivili¬
sationsbruch als Faschingsumzug.

Die Ambivalenz der sozialdemokratischen
Kultur ist in der Form beschlossen, in der man
die Geschichte sich zu eigen macht: ohne es
recht zu wissen, reproduziert man darin ein
Bewußtsein, wie es die ideologischen Appa¬
rate des politischen Gegners kaum besser her¬
vorbringen. Dessen wichtigster Zeremonien¬
meister auf dem Gebiet der Theatergeschichte
war Heinz Kindermann — und Evelyn
Deutsch-Schreiner tut gut daran, gerade ihn in
den Mittelpunkt zu rücken, wenn sie sich die
„katholische und konservative Domäne“ vor¬
nimmt. Wie kaum an einer anderen Gestalt
läßt sich an Kindermann die Kontinuität der
Kulturpolitik in Österreich deutlich machen:
Schon in den zwanziger Jahren besetzte er
wichtige Verbindungsstellen zwischen Mini¬
sterium, Kunst und Wissenschaft; im Na¬

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