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Seit 1956 heißt der Platz am südlichen Ufer der Donau Mexi¬
koplatz, in Erinnerung an den Protest der Vereinigten Staaten
von Mexiko im Jahre 1938 gegen die Annexion Österreichs
durch Hitlerdeutschland. Der Platz liegt an der nord-südlichen
Hauptachse Wiens, die durch die Favoritenstraße, den Karls¬
und Stephansplatz, die Kärntner Straße, Prater- und Lassalle¬
straße gebildet wird und sich im Norden über die Reichsbrücke
zum Kagraner Platz fortsetzt. Auch die frequentierteste U¬
Bahn-Linie Wiens, die U 1, folgt diesem Straßenzug.

Mexiko blieb der einzige Staat, der 1938 in aller Form ge¬
gen die „Wiedervereinigung des Landes Österreich mit dem
Deutschen Reich“ protestierte. Dem Exil in Mexiko haben wir
schon einmal (MdZ Nr. 1/1998) ein Schwerpunktheft gewid¬
met; Christian Kloyber skizziert darin (S. 12ff.) Vorgeschichte
und Motive der mexikanischen Demarche beim Völkerbund in
Genf.

Büro und Archiv der Theodor Kramer Gesellschaft sowie
die Redaktion unserer Zeitschrift befinden sich seit ihrer Grün¬
dung (1983) in einem Haus in unmittelbarer Nähe des Mexi¬
koplatzes. Der Platz, ein wahrer Vielvölkerplatz, den Ljubomir
Bratic in einem Essay und einigen idealtypischen Skizzen, Lisl
Ponger und Nina Jakl fotografisch, Siglinde Bolbecher und
Konstantin Kaiser literarisch beschreiben, prägt die nähere
Umgebung, das sogenannte Stuwerviertel, von dem Cécile
Cordon berichtet, zwischen dem Vergnügungspark der Stadt,
dem Wurstelprater, und der Donaulände gelegen. Die Engerth¬
straße, in der ZW residiert, ist wohl eine der längsten Straßen
Wiens; sie führt vom Friedrich Engels-Platz im Bezirk Bri¬
gittenau bis zum Wiener Stadion und darüber hinaus.

Am Mexikoplatz redet man in vielen Sprachen, Serbisch,
Wlachisch, Rumänisch, Türkisch, Deutsch, Russisch, Unga¬
risch... Etliche Geschäftsinhaber stammen aus Georgien, an¬
dere wieder sind Juden, vor Jahrzehnten schon aus Rußland
zugewandert. Auf dem Platz blüht der Schwarzhandel mit ge¬
schmuggelten Zigaretten. Dazwischen nisten, wie Überbleib¬
sel aus einer Vergangenheit, die Verkaufslokalitäten schon
länger eingesessener Österreicher, die sich den später
Zugewanderten, den „Ausländern“, gegenüber gerne als Ein¬
heimische und Repräsentanten von Ordnung und Zivilisation
betrachten. Der Mexikoplatz gilt, sagen wir es kurz, in Wien
nicht als gute Adresse. Aber er ist einer der friedlichsten und
freundlichsten Plätze Wiens.

Die meisten der hier wohnenden Zugewanderten hausen in
sehr bescheidenen Quartieren und zahlen oft überhöhte Mieten.
Für manche Eingesessene ist das kein Problem; ihr Stichwort
für den Platz lautet „Bazar“, ein Wort, durch das ein leiser le¬
vantinischer Schauer weht. In einem Bezirksblatt wird eine An¬
rainerin zitiert: „Früher hab’ ich manchmal glaubt, ich bin im
Bazar“, schildert Juliane Werger aus der Lassallestraße, „am
Mexikoplatz hast fast rund um die Uhr einkaufen können.“

Der Frau steht als Einheimischer in gemeinsamer Täter¬
schaft mit dem anonymen Redakteur des Bezirksblatts das
Recht auf Verhunzung der deutschen Sprache (und Entstellung
der Tatsachen) zu. Herauskommt eine Art Kindersprache, in
der sich das Ruhebedürfnis vom Lärm geplagter Menschen
(die Lassallestraße, zur sechsspurigen Autobahn ausgebaut, ist
eine der verkehrsreichsten Straßen Wiens) mit seinen Be¬
schwerden an die falsche Adresse wendet, ohne den geringsten
Spielraum zum Nachdenken zu lassen.

Vielleicht rühren die Schwierigkeiten vieler Zugewanderter,
einigermaßen Deutsch zu lernen, auch von dieser Pseudokin¬
dersprache her. Im defizienten Sprachgebrauch manifestiert
sich der ideologische Wandel von einem Verständnis des
Deutschen als einer lingua franca, einer freien Verkehrssprache
Mitteleuropas zu einem Ausweis der Volkszugehörigkeit.
Dieser Ausweis der Volkszugehörigkeit kann nun auch in ver¬
stümmelter Rede, in restringierter Artikulation erbracht wer¬
den, pendelnd zwischen der diffusen Wärme des vom
Gegenüber erwarteten Zugehörigkeitsgefühls und der distink¬
ten Kälte der Verweigerung von Gemeinsamkeit.

Ungeheurer Gewinn für die gemeinsame Sprache in unserer
Weltgegend ist hingegen die Arbeit, die Zugewanderte mit und
an dieser Sprache leisten, ihre Bereitschaft und ihre Not, alle
Nuancen gegenständlichen Ausdrucks, all die gewohnten Wen¬
dungen neuerlich zu prüfen, vor dem Hintergrund eines ande¬
ren Wissens und Tönens der Sprache die Fähigkeit zur
Korrektur, Einsicht, Annäherung zu entwickeln. Anna Kims
großes Gedicht „Exile“ (S. 12) weist in diese Richtung.

Der Mexikoplatz und das Stuwerviertel wiesen bis zur
Nazizeit einen großen jüdischen Bevölkerungsanteil auf. Die
jüdischen Familien gehörten, wie die überwältigende Mehrheit
der Wiener Juden, den ärmeren Schichten an. Über die Ari¬
sierung der Gemeindewohnungen jüdischer Mieter und über
deren weiteres Schicksal schreiben Herbert Exenberger,
Johann Koß und Brigitte Ungar-Klein; Exenberger vergegen¬
wärtigt uns auch den jüdischen Arbeiterdichter des Stuwer¬
viertels, Adolf Unger, und seine gleichermaßen begabten
Brüder Bernhard und Maximilian. In privaten Miethäusern
dürfte der jüdische Anteil aber erheblich höher gewesen sein
als in den Gemeindebauten. Viele der heutigen Bewohner des
Viertels leben jedenfalls in Wohnungen, deren frühere Be¬
wohner vertrieben und deportiert worden sind.

Die Geschichte des Platzes und des Viertels beschreibt sach¬
kundig Erwin Chvojka, der in unmittelbarer Nähe wohnende
Nachlaßverwalter Theodor Kramers, aus jahrzehntelanger Ver¬
bundenheit. Die Kunsthistorikerin Maria Kramer, die der ZW¬
Redaktion gerade gegenüber wohnt, erläutert uns die Ar¬
chitektur und Baugeschichte der den Platz dominierenden
Kirche. Bruno Schwebel und Marion Steinfellner ihrerseits ge¬
leiten uns, kritisch und liebevoll zugleich, in das Land, das dem
Platz seinen Namen gegeben hat: Mexiko.

In Zusammenarbeit mit dem Kulturkreis Mexikoplatz wer¬
den wir den Mexikoplatz-Schwerpunkt auch als eigene Bro¬
schüre herausgeben und verbreiten: Vielleicht steigt mit der
Kenntnis der Geschichte auch die Achtung für den Ort, an dem
man sich befindet. Ein Mehr an Selbstachtung kann keines¬
wegs schaden.

Daß sich in der Umgebung des Platzes die verschiedensten
kulturellen und sozialen Initiativen entwickelt haben und mit
erheblichem Erfolg arbeiten, zeigt die kurze Zusammenstel¬
lung von Barbara Deißenberger (S. 64 ff.) Der Unglückskomet
Konrad, der in Jura Soyfers Weltuntergang ausgesandt ist, die
Menschen zu vernichten und unverrichteter Dinge an der Erde
vorübersaust, könnte auch hier sein Versagen mit den Worten
rechtfertigen: Ich habe sie beim Näherkommen ein bisserl ken¬
nengelernt.

Siglinde Bolbecher/Konstantin Kaiser