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Die Politik hat ihre Verantwortung für die Vergangenheit neu
entdeckt. Diese soll historisch aufgearbeitet und bewältigt wer¬
den. Doch diese Einsicht der Politiker beruht nicht auf
Freiwilligkeit, denn Debatten über die eigene Vergangenheit
werden meist durch soziale und politische Krisen und Brüche
oder — wie im Falle der Schweiz — durch äusseren Druck in
Gang gesetzt. Der öffentliche Sprachgebrauch kennt hier kei¬
ne Gnade. So gibt es neben der aufgearbeiteten auch eine un¬
aufgearbeitete Vergangenheit, die in logischer Konsequenz der
historischen Läuterung noch harrt. Die radikalere Form, mit
dem Geschehenen umzugehen, heisst, es zu bewältigen. Die
„ Vergangenheitsbewältigung‘ will die frühere Zeit in „die ei¬
gene Gewalt“ bringen, mit ihr „fertig werden“.' Sie geht über
den Prozess des Ab- resp. Aufarbeitens hinaus. Denn eine Be¬
wältigung ist ein zerrender Akt, der das Moralische und Psy¬
chologische miteinbezieht: Erinnerung an Leiden und Verbre¬
chen, an Schuld und Mitverantwortung. Die Aufarbeitung lei¬
sten Historiker; die Sühne bleibt — von politischen Gesten ab¬
gesehen - auf der Strecke.

Die Schweiz schien lange mit ihrer Vergangenheit im
Reinen zu sein. Das wehrhafte Volk der Eidgenossen — so die
verklärte Sicht der Nachkriegsjahre — wurde durch die umsich¬
tige und neutrale Politik ihrer Landesväter vom Krieg ver¬
schont. Die fremden Händel gingen die Schweiz nichts an. Mit
ihren hohen Bergen war die Schweiz eine Trutzburg, eine ret¬
tende Insel inmitten des stürmischen Europa. Dieses Ge¬
schichtsbild bot wenig Platz für kritische Reflexion.?

Im Laufe des Jahres 1996 spitzten sich die Diskussion und
Vorwürfe um die Frage der Goldtransaktionen zwischen der
Schweizerischen Nationalbank und dem „Dritten Reich‘ sowie
um die Frage nach nachrichtenlosen Konten auf Schweizer
Banken zu.’ Bundesrat Pascal Delamuraz bemerkte im Zuge
der sogenannten Raubgold-Debatte, dass Auschwitz nicht in
der Schweiz liege.’ Die Verbrechen des „Dritten Reiches“ fan¬
den ja nicht auf Schweizer Boden statt. Eine Verstrickung und
Mitverantwortung der Schweiz an den Verbrechen des Natio¬
nalsozialismus wurden somit lange Zeit exterritorialisiert.” Im
Laufe der Diskussionen wurde „Geschichte, nachdem man sie
als Geschichte nicht hatte wahrhaben wollen, in die Gegenwart
zurückgeholt, um bald darauf wieder Geschichte zu werden.‘

Die Unabhängige Expertenkommission Schweiz —
Zweiter Weltkrieg

Als Reaktion auf den äusseren Druck und die internationale
Kritik setzte die schweizerische Bundesversammlung im
Dezember 1996 die Unabhängige Expertenkommission
Schweiz — Zweiter Weltkrieg (UEK) ein. Ihr Auftrag war es,
Umfang und Schicksal der infolge der nationalsozialistischen
Herrschaft in die Schweiz gelangten Vermögenswerte histo¬
risch und rechtlich zu untersuchen. Zunächst standen primär
der Goldhandel und die Devisengeschäfte der Schweizerischen
Nationalbank und der Schweizer Privatbanken im Mittelpunkt

des Interesses. Später wurde das Mandat durch die Unter¬
suchung der schweizerischen Flüchtlingspolitik erweitert. Die
Regierung stellte für das ehrgeizige Vorhaben die Summe von
22 Mio. Schweizerfranken zur Verfügung und verschaffte den
Kommissionsmitgliedern rechtliche Zugangsprivilegien zu
staatlichen und privaten Archiven. Die Parlamentarier ver¬
pflichteten sich zudem, die Ergebnisse der Kommission voll¬
ständig und „unzensuriert“ der breiten Öffentlichkeit zugäng¬
lich zu machen. Die rund 30 Mitglieder der Kommission ar¬
beiteten unabhängig von den Behörden und Interessenver¬
bänden. Nach fünfjähriger Forschungstätigkeit legte die UEK
unter dem Präsidium des Schweizer Historikers Jean-Frangois
Bergier dem Parlament und der Öffentlichkeit 25 Studien und
Beiträge’ und im März 2002 einen Schlussbericht vor.°

Der über 500 Seiten umfassende Bericht ist eine Zusam¬
menstellung der zentralen Ergebnisse der einzelnen Teilstu¬
dien. Eine überaus gelungene Darstellung des internationalen
Kontexts und der nationalen Entwicklung der Schweiz der er¬
sten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildet den Auftakt. Erkennt¬
nisse, Einsichten und offene Fragen stehen am Ende des
Schlussberichts.

Xenophobie, Antisemitismus, Flüchtlinge und
Flüchtlingspolitik

Die schweizerische Flüchtlingspolitik war schon mehrfach
Gegenstand von historischen Untersuchungen, die von der
Landesregierung in Auftrag gegeben wurden. Alle hatten eine
deutliche Sprache. Der 1970 publizierte Bericht über die
schweizerische Neutralität von Edgar Bonjour sprach gar vom
„Versagen“ und der „Mitschuld“ einer ganzen Generation.’ Die
UEK zeigt in ihrem Bericht die diskriminierenden Stationen
der Flüchtlingspolitik auf und spürt ihrem Nährboden nach.
Fremdenfeindlichkeit und die Angst vor einer Überfremdung
der Schweiz waren keine Folge des Ersten Weltkrieges. Sie
entsprangen einerseits der Aufwertung des Nationalstaates, die
gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte. Andererseits stell¬
te die Angst vor „fremden Elementen“, d.h. revolutionären
kommunistischen Agitatoren, entlassenen Soldaten, Deser¬
teuren oder jüdischen Immigranten aus Osteuropa sowie ar¬
beitssuchenden Menschen einen Abwehrreflex auf die
gesellschaftspolitische Krise am Ende des Ersten Weltkrieges
dar. (123) Im Zuge der Weltwirtschaftskrise, die die Schweiz
verspätet aber mit aller Wucht traf, verband sich die Angst, von
Flüchtenden überschwemmt zu werden, mit wirtschaftlichen
und arbeitspolitischen Argumenten. (128) Die unheilige
Allianz zwischen Xenophobie und Wirtschaft war fortan der
Nährboden für judenfeindliche Ressentiments und antisemiti¬
sche Agitationen. Der Überfremdungsdiskurs wurde von einem
Antisemitismus schweizerischer Prägung bestimmt, auch
wenn im Urteil der Kommission kein Zweifel daran besteht,
„dass die schweizerische Bevölkerung die NS-Ideologie mit
überwältigender Mehrheit ablehnte“ (76). Trotz dieser ableh¬