Ich sitze seit zwölf Uhr im Extrazimmer des Brückenbeisls,
Wien 2, Mexikoplatz. Fünf nach zwölf betritt beschwingten
Schrittes Herr Ferdinand Kugler den Raum. Den Gehstock legt
er auf die Sitzbank, dann nimmt er mir gegenüber Platz.
Herr Kugler ist heute 94 Jahre alt. Seit seiner Geburt im
Jahre 1908 wohnt er am Mexikoplatz im zweiten Wiener
Gemeindebezirk. Oder genauer in der Vorgartenstraße. Und
weiß so ein wenig Bescheid über das, was sich zwischen der
Reichsbrücke und der Kaiser-Jubiläums-Kirche abgespielt hat.
Schon sein Vater besuchte den Brückenwirt. Damals hieß der
Mexikoplatz noch Erzherzog Karl-Platz, und der Elfer bim¬
melte vor dem Wirtshaus auf der Engerthstraße. Herr Kugler
senior arbeitete als Pferdeschmied für die Wiener Pferde¬
tramway. Nach der Umstellung auf das elektrische Betriebs¬
system brauchte man keine Schmiede mehr, und Kugler senior
wurde als Straßenbahner in den Gemeindedienst aufgenommen.
Die Remise befand sich auf der anderen Seite der Kronprinz
Rudolf-Straße, die zur imposanten Kronprinz Rudolf-Brücke
führte, und nach dem Dienst mußte man nur die Straße über¬
queren, und schon konnte man sich beim Brückenwirten an ei¬
nem guten Roten laben. Apropos guten Roten, Vater war einer
der wenigen Christlich-Sozialen bei der sonst monokoloren
Straßenbahn.
Der 94jährige Kugler junior bestellt eine Schöberlsuppe und
das Einsermenü. Kurz darauf bringt der junge Kellner die
Suppe, doch Herr Kugler kommt kaum dazu, den Löffel in die
Suppe zu tauchen. Damals waren nicht viele Geschäfte auf dem
Mexikoplatz, oder am Erzherzog Karl-Platz. Das Brückenbeisl,
dann ein Blumengeschäft und ein Kohlenhändler. Aber eine
Straße weiter, in der Vorgartenstraße, da haben viele jüdische
Emigranten gewohnt. Die sind größtenteils aus dem zaristi¬
schen Rußland gekommen. In unserem Haus war zum Beispiel
erst der Ertl, und dann hat der Gelbersch den Laden gekauft.
Wir haben dabei sein Jiddeln nachgemacht und so haben wir
Gelbersch zu ihm gesagt.
Bei denen haben wir die Textilien eingekauft. Man hat auch
zum Tandelmarkt gehen können. Dort hat es überhaupt keine
Juden gegeben. Die Verkäufer haben die Bewilligung nach der
Maria-Theresien-Konzession erhalten, so wie dann später die
Trafikanten. Das waren also zumeist Kriegsversehrte.
Die Kinder von den jüdischen Emigranten haben aber ganz
normal Wienerisch gesprochen. In der Volksschule habe ich gar
nicht gewußt, daß das Juden sind. Ich hab das erst gemerkt, wie
sie beim Religionsunterricht das Schulzimmer verlassen ha¬
ben, wenn der Katechet gekommen ist.
In der Zwischenzeit ist die Schöberlsuppe von Herrn Kugler
kalt geworden und die Würfel und Rhomboide bleiben am
Tellergrund liegen. Schließlich überstürzten sich 1918 die
Ereignisse. Der Erzherzog Karl-Platz hieß auf einmal
Volkswehrplatz, zur Kronprinz Rudolf-Straße sagte man
Lassalle-Straße, nur die imposante Brücke über die Donau er¬
hielt den ziemlich unverfänglichen und auf nichts weisenden
Namen Reichsbrücke.
Halt, nicht so schnell, unterbricht Ferdinand Kugler. Meine
Schwester war noch dabei, als der Kaiser in der Kaiser¬
Jubiläums-Kirche auf dem Platz die Elisabethkapelle einge¬
weiht hat. Das war 1908, und die Schwester hat ein weißes
Kleid getragen, und der Kaiser hat ihr über die Wange ge¬
streichelt.
Der Kellner serviert die kalte Suppe ab und stellt den Teller
mit den zwei Scheiben Schweinernes nebst Semmelknödel auf
den Tisch und placiert mit geübten Bewegungen die Schüssel
mit Salat.
Herr Kugler greift nach dem Teller, rollt den Knödel zur
Seite, schaut durch das Schweinerne und durch den Saft und
erblickt am Grunde des Tellers ein Haus in der Praterstraße 32.
1922 bin ich dort in die Lehre gegangen. Bei einem
Instrumentenbauer, ich habe das Instrumentenmachergewerbe
erlernt. Vor allem Zither, Geige und Gitarre. Aber Zither war
schon recht einfach, das haben selbst Tischler zusammenge¬
bracht. So hab ich mich auf Geige spezialisiert. Ein Lehrer aus
der Bürgerschule hat mich dorthin vermittelt, der war selber
ein Kammermusiker und hat gemerkt, daß ich recht gut im
Umgang mit Musikgeräten war. Kein Wunder, wir haben zu
Hause Hausmusik gespielt, Geige vor allem.
Wieder schaut er durch sein Schweinernes, nun schiebt er
den Saft beiseite und erkennt am Grunde des Tellers den
Mexikoplatz, der damals Volkswehrplatz hieß. Wie bereits ge¬
sagt, der Elfer fuhr vor dem Brückenbeisl vorbei, der Volks¬
wehrplatz umfaßte auch den Platz gegenüber auf der anderen
Seite der Lasallestraße, da es keine raumtrennende Rampen¬
auffahrt zur Donaubrücke gab. Das Brückenbeisl war hingegen
vom eigentlichen Platz getrennt durch die vielbefahrene
Engerthstraße. Vorne an der Donau befand sich die weitge¬
streckte Lände, viele Frachtschiffe lagen vor Anker, und dem¬
entsprechend viele Matrosen schwärmten zur abendlichen
Unterhaltung aus. Die Damen warteten im Stuwerviertel oder
gleich im Prater.
Herr Kugler sah sie, als er zu Fuß in die Arbeit in der
Praterstraße gegangen ist. Vor allem ältere Damen.
Aber meine Eltern haben mich schon aufgeklärt über die
Krankheiten, die man da bekommen kann.
Der Donauraum war ja damals nicht Freizeitgebiet, son¬
dern diente vor allem dem Handel. Am Ufer standen unzähli¬
ge Lager und Getreidespeicher.
Viele Leute aus Ungarn und Rumänien sind so nach Wien
gekommen, die vor allem beim Ein- und Ausladen der Ware ge¬
holfen haben. Die haben dann auch ihre Sachen verkauft, die
sie wahrscheinlich schwarz mitgenommen haben. Zigaretten
und Alkohol, aber auch Kleidung.
1928 bin ich dann als Geigenbauer zum Stübinger gekom¬
men. Der Stübinger war in der Bösendorferstraße gleich bei
der Oper, und der Stübinger und die Staatsoper, und der
Stübinger und die Philharmoniker, das war praktisch eins. So
bin ich oft in die Oper gekommen, und dann hab ich auch
schon die Lieder nachsingen können, weil musikalisch war ich
schon als kleiner Bub. Im Park, aber jetzt nicht am Volks¬
wehrplatz, sondern auf der anderen Seite der Lassallestraße,
da hab ich am Abend die Lieder gesungen, und die Mädchen
waren recht begeistert. So hab ich auch meine Frau kennen¬
gelernt.
Den Gurkensalat hat Herr Kugler brav ausgelöffelt. Den
Teller mit den Braten schiebt er indes auf die Seite und der
Knödel kühlt unverdrossen vor sich hin. In der Zwischenzeit