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Momente abends anzünde, ist schon sehr klein. Ob Erica mir wohl noch eine Kerze verschaffen wird können? Es scheint, daß es dergleichen kaum mehr gibt. Armes Frankreich! Du Land des strömenden Überflusses! Ich fürchte, jetzt ist’s fast ebenso schlimm wie in Österreich 1918/19. Zweimal im Leben das mitmachen müssen, ist viel. Und das zweite Mal auch noch dazu im Gefängnis! Januar 1944 Der Sylvesterabend hat mit dem Einbruch der Gefängniswirklichkeit begonnen. Der junge Italiener ist die Nacht hiergeblieben, in dem winzigen Raum, ohne Decke, ohne Strohsack. Der Junge, ein Mailänder, kaum 21 Jahre alt, hat sich seit dem Waffenstillstand ,,debrouilliert [durchgeschlagen]“, ist in Antibes, wo seine Batterie gewesen war, versteckt gewesen, verhaftet und nach Menton gebracht worden. Jetzt hier - um mit dem nächsten Transport zur Arbeit abgeschoben zu werden, in Frankreich oder Deutschland. Er besitzt nichts, als was er auf dem Leibe hat, einen dünnen Sommeranzug, nicht einmal einen Pullover. Wir haben ihm alles gegeben, was wir entbehren konnten. Nach einer halben Stunde, als er sich auf dem Boden eingerichtet hatte, wollte ich ihm noch etwas geben - er schlief schon tief. Oh Jugend! Ein netter Junge. Er hat seine entschiedenen Meinungen, sein lebendiges Ja und Nein. Anders als meine zwei da. Heute morgen hörte ich erstaunt von ihm: „Guten Morgen.“ Der erste Gruß, den ich in der Zelle empfing, in der ich jetzt die vierte Woche sitze. [...] Heute sind es zehn Jahre her, daß Jakob [Wassermann] gestorben ist, einen leichten, schnellen Tod. Der Liebe! Er war ein wirklich geistiger Mensch und so ein echter Künstlermensch. Ich glaube, ein Teil seines Werkes wird weiterleben; die Erzählungen, Kaspar Hauser, das Gänsemännchen. Es war eine Schicksalsgnade, daß der Tod ihm erspart hat, noch diesen Krieg zu erleben und vielleicht irgendwo im Exil zu sein. Ein öder Tag geht zu Ende. Wieder auf dem Strohsack. Neben mir liegt der junge Italiener. Nach vielem Flehen den ganzen Tag über, habe ich erreicht, daß er wenigstens einen Strohsack bekommen hat, sodaß er wenigstens nicht auf dem nackten Boden liegen muß. Keine Decke — wir geben ihm unsere Mäntel zum Zudecken. Der Offizier, den ich um den Strohsack bat, sagte mir, daß in vielen Zellen bis zu sieben untergebracht sind — Zellen, die für einen Häftling bemessen sind! Nun ja, in der Villa Lynnwood waren wir ja auch neun in einer winzigen Zelle. Sonntag, 2. Januar 44 Es ist kalt auf der Welt. Es friert. Wenn man wie ich 20 Jahre im Süden zugebracht hat, wird man frileux [kälteempfindlich] wie die Meridionalen [Südländer]. Und gar noch bei diesem völlig fettlosen Essen. Ich habe Mühe mich zu erinnern, wie es war, als ich zum Frühstück Paprikaspeck gegessen habe. Die zwei fangen jetzt an, sich in ihren Hungerphantasien Mahlzeiten auszumalen. Aber auf mein Drängen wurde beschlossen, nicht von Essen zu reden. Das Schlimme an „Hungerhaben“ ist, daß es sich so sehr des Denkens bemächtigt und den Menschen so sehr Terra a terra [am Boden zerstört] macht. Hunger ist der Feind der Seele, und er bindet jeden Aufschwung. Vielleicht wenn er ganz böse wird und der Körper schon recht geschwächt ist, bringt er es mit sich, daß man nüchtern, klar und hellhörig wird. Jeden Morgen gehen mir die Verse im Kopf herum: 22 Auf in Gottes Namen Schon blaßt die blaue Nacht im Fensterrahmen Ob dieser Tag die Freiheit bringen mag? Spaziergang in klarer Kälte. Die Pr&au [Höfe] gefroren. Hinter dem Gitter die Salade romaine [Salat] haben braune, faltige Ränder. Und die Frostbeulen an den Füßen — und jetzt auch an den Händen - tun weh. Mit uns marschiert ein etwa dreißigjähriger, jämmerlicher Mann. Er hatte eine Backe furchtbar geschwollen. Plötzlich sah Artus, daß ihm helle Tränen aus den Augen liefen. Ein junger Italiener bat um Streichhölzer, ich hatte keine bei mir. Ich versprach ihm welche, es fiel mir aber ein, daß wir selber nur noch sieben hatten, aber ich beschloß, ihm drei zu bringen. Aber als die Tür jäh aufgerissen wurde und „Promenade“ geschrien wurde, da habe ich sie vergessen, ich schäme mich. Ein Jude, mit dem ich in Les Milles' zusammen gesessen bin, steckte mir auf dem Spaziergang ein paar Blätter Schreibpapier zu: „Sie sind doch Schriftsteller, können Papier nötig haben!“ [...] Fliegeralarm. Der zweite in zwei Stunden. Das wiederholt sich jetzt schon so oft, daß man kaum mehr acht gibt. Jetzt hört man die Flak sehr laut. Vor wenigen Tagen wurde die Umgebung bombardiert. Durchs Fenster sieht man die Schrapnells platzen - jetzt höre ich auch die Flugzeuge, aber keine Bomben wie neulich. Der Himmel ist voll weißer Schrapnellwölkchen... Jetzt verzieht sich der Lärm nach Osten. [...] Der italienische Bub neben mir ist sehr erträglich, er ist nur der Zuvielte, aber er wird ja nicht bleiben, ebenso wie die Kälte nicht bleiben wird. Ich höre, daß ein „Ordnen“ der Zellen anfangen wird und uns alle überflüssigen Sachen wie Bücher, Schreibpapier, Rasiersachen und alle kleinen Annehmlichkeiten des Lebens weggenommen werden. In Menton habe ich lernen müssen, was man alles entbehren kann, nur war damals Sommer, und wir waren mehr Leute in einer Zelle; man hatte Spiele spielen können. Nun ich will an die Villa Lynnwood denken und mir sagen, daß man das auch überlebt hat. Allerdings muß ich sagen, daß ich es gerade nur überstanden habe, ohne allzuviel Schaden zu nehmen, wenigstens nicht allzu merklichen Schaden... Mir fällt die Zeit in Menton ein, da alle etwas zu essen und rauchen hatten, nur ich nicht durch Wochen und Wochen, obwohl ich fünftausend Franken abgegeben hatte — aber der Wechsler ist wochenlang nicht gekommen, und man durfte nicht 25 Centesimi für die „Vinceremo“-Karten? ausleihen. Damals habe ich, weiß Gott, Hunger gehabt. Nicht erleichtert dadurch, daß die anderen Pakete bekamen und in der Kantine kaufen konnten. Ich habe es überlebt. Es wird auch das jetzt alles vorbeigehen. Möge ich weiter Mut und Gesundheit bewahren, dann später etwas Rechtes zu leisten, immer besser und wahrer zu werden. [...] Sonntag, 9. Januar 44 Wie kalt! Und was für ein Sonntagsanfang. Um halb sieben das Licht und den Fußtritt gegen die Tür — und dabei noch denken zu müssen: „Noch gut, daß der Fußtritt nicht mich selber getroffen hat!“ Schlecht geschlafen. Der Wachhabende hat sich damit amüsiert, zehnmal das Licht anzudrehen und so lange brennen zu lassen, bis man sich bewegte, um nach der Uhr zu sehen, und damit abzudrehen, bevor man die Uhr erreichen konnte. Jetzt fühlt man sich wie nach einer Nacht in der dritten Klasse, nur daß man nach solchen Fahrten doch irgendwo angekommen ist, während ich jetzt doch nur frierend auf dem