Der amerikanische Germanist und Literaturwissenschaftler
Jeffrey B. Berlin gehört zu den profilierten Kennern der
deutschsprachigen Literatur. 1976 wurde er an der State
University of New York at Binghamton mit einem Vergleich des
dramatischen Werks von Henrik Ibsen und Arthur Schnitzler
zum Dr. phil. promoviert. Einer seiner herausragenden Lehrer
dort war Robert O. Weiss, langjähriger Präsident der Inter¬
nationalen Arthur Schnitzler Gesellschaft. Seit dieser Zeit ar¬
beitete Berlin, bis 2000, als Editorial Board Member eng mit
dem Herausgeber der „Modern Austrian Literature“, Donald
G. Daviau, zusammen. Als Mitherausgeber der großen Stefan
Zweig-Briefedition des S. Fischer Verlags genießt Berlin in¬
ternationales Renommee und wird aus gutem Grunde zu den
„verdienstvollen Zweig-Forschern“ (Donald A. Prater) ge¬
zählt. Ein anderer Kenner, Volker Michels, hält ihn „für so et¬
was wie die Schule der Zweig-Forschung in den USA“. Mit
seiner Frau Anne und zwei Kindern lebt Berlin als Professor
emeritus in Philadelphia, wo er viele Jahre lehrte.
Für ZW führte Hans Jörgen Gerlach das Gespräch.
Herr Professor Berlin, sechzig Jahre sind vergangen seit dem
rätselhaften Tod Stefan Zweigs in Brasilien, ein Schriftsteller
europäischen Zuschnitts, dem Sie — wenn ich das so sagen darf
— nicht nur wissenschaftlich, sondern auch menschlich sehr
nahe stehen. Als Sie 1946 in Philadelphia geboren wurden, lag
Zweigs Selbstmord bereits knapp vier Jahre zurück. Woher
rührt diese Nähe?
Dazu muß ich etwas ausholen: Ich kam über die Naturwis¬
senschaften an die deutschsprachige Literatur, denn ursprüng¬
lich studierte ich Chemie, und um damals die diesbezüglichen
wissenschaftlichen Texte zu verstehen, war es notwendig, zu¬
mindest das Schriftdeutsch zu beherrschen. Mit anderen Wor¬
ten: Ich lernte an der Universität nebenher Deutsch und mein
Lehrer begeisterte sich für deutsche Literatur. Ihm scheint es
gelungen zu sein, diesen Funken auf mich überspringen zu las¬
sen. Mit der Klassik Goethes beginnend, gelangte ich über
Schnitzler, Hofmannsthal, Kraus, Beer-Hofmann - aber auch
dem Kreis der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung — bald
zu Stefan Zweig. Wie kaum ein anderer verkörperte er den
Geist vom Glanz und Untergang des Wiener Geistes- und
Kulturlebens. Zweig erlebte die Endzeit des Fin de siecle, den
Untergang der Monarchie und das Ende der Ersten Republik
durch den „Anschluß“ Österreichs an Nazideutschland. Zu¬
gleich aber war er Europäer und Weltbürger. Eine Persön¬
lichkeit, in deren geistige Nähe man sich gerne stellt.
Sie kennen Zweig aber nicht nur aus Büchern. Das Verzeichnis
Ihrer eigenen Publikationen, neben Zweig auch über Hof¬
mannsthal, Jacob, Schnitzler, Thomas Mann und viele andere
ist ebenso imponierend wie die Liste Ihrer weltweit aktiven
Teilnahme an Kongressen, ob nun zum Thema Zweig oder vie¬
len seiner Zeitgenossen oder zur Geschichte des Holocaust.
Nun, Symposien stehen doch in der Regel unter einem Leit¬
motto, das Zweigs kritischer Freund Heinrich Eduard Jacob
einst so treffend prägte: „Ich bin der Mittler und das Ge¬
mittelte.“ Man ist bei solchen Anlässen nicht nur der Mittler,
sondern man bekommt etwas vermittelt und lernt Personen, die
einem durch Texte, Fußnoten und Korrespondenzen längst be¬
kannt sind, persönlich kennen. Es findet dadurch in der Tat ein
gegenseitig befruchtender Austausch statt; Freundschaften
werden geschlossen und geschmiedet.
Es gäbe viele der Ihnen bekannten Persönlichkeiten zu nennen,
ich möchte nur einige erwähnen: Die beiden im letzten Jahr
gestorbenen Harry Zohn und Donald A. Prater, auch Sol
Liptzin sei genannt. Sie korrespondierten aber auch noch mit
Anna Freud, den Kindern von Beer-Hofmann, mit Alice von
Kahler, Heinrich Schnitzler oder Thomas Manns Kindern Golo
Mann und Elisabeth Mann Borgese. Sie kannten Hofmanns¬
thals Tochter Christiane Zimmer ebenso persönlich wie den
Sohn Hermann Brochs oder die Schwester Thornton Wilders.
Ja, meine langjährigen Freunde und Ratgeber Zohn und Pra¬
ter - ihr Tod traf mich sehr, es waren herbe Verluste. Durch ihre
Hinterlassenschaft haben sie sich jedoch in gewisser Weise un¬
sterblich gemacht, sie leben auf gutem Papier und in der
Erinnerung fort. Ähnlich sieht es mit den anderen von Ihnen
Erwähnten aus. Man erfährt viel von solchen Persönlichkeiten,
doch kann oder konnte man ihnen gerne auch etwas vermitteln,
vor allem über ihre so dominanten Väter, an denen sie zu
Lebzeiten oftmals litten; denken sie nur an Beer-Hofmanns
Töchter Mirjam und Na&mah oder an Golo Mann. Elisabeth
Mann Borgese, sie hing bekanntermaßen sehr an ihrem Vater,
schrieb mir einst, nachdem ich ihr eine meiner Arbeiten ge¬
schickt hatte: My father said that the Literarhistorikers knew
much more about his work than he knew himself, and I am sure
he was right!
Erst unlängst vernahm ich, daß die wirklichen Historiker die
Literaturwissenschaftler seien. Lassen Sie uns auf Stefan
Zweig zurückkommen: Im Zweig-Archiv, in Fredonia, fanden
Sie vor mehreren Jahren ein Konvolut unveröffentlichter Briefe,
die Heinrich Eduard Jacob an Zweig geschrieben hatte. Mitte
1933 ging Jacob darin mit Zweig wegen dessen ambivalenter
Haltung gegenüber der österreichischen PEN-Club-Opposi¬
tion ins Gericht.
Ich kann mir denken, worauf Sie hinauswollen: Beim in¬
ternationalen PEN-Club-Treffen im Mai 1933 in Ragusa — un¬
mittelbar nach der Biicherverbrennung — sollten bekanntlich
die deutschen Zustände erörtert werden, ein Konflikt war vor¬
programmiert. Die österreichischen Delegierten Salten, ob¬
wohl Jude, und Urbanitzky fühlten sich den Deutschen
verbunden und biederten sich ihnen an, es kam zur Spaltung
der österreichischen Delegation. Der „turning point“ in der
Geschichte des PEN war markiert, was wiederum zu einem
heftigen Nachspiel in Wien führte. In Jacobs Wiener Wohnung
wurde eine Resolution aufgesetzt, die darauf abzielte, den PEN
geistig und moralisch zu reorganisieren.
Zweig, der dieser Zusammenkunft selbst nicht beiwohnte, wur¬
de durch Jacob schriftlich in Kenntnis gesetzt. Seine Antwort ist