Eine Gegenposition dazu deutet Hugo Huppert in einem
Beitrag der Zeitschrift Weltbühne vom November 1956 an.
Huppert sieht in Zweig den bürgerlichen Pazifisten, der aus
tiefster Überzeugung, getreu dem Motto der Antigone „Nicht
mitzuhassen, mitzulieben bin ich da“, nicht nur den Krieg, son¬
dern auch den Klassenkampf verurteilt. Er hät den Erasmus —
neben dem unvollendet gebliebenen Balzac — fiir das wohl be¬
ste Werk Zweigs.
Damit tiberhaupt noch Werke Zweigs in der DDR erschei¬
nen können, sind nun — außer den für die Druckgenehmigung
ohnehin notwendigen Gutachten — Vor- oder Nachworte von
namhaften Wissenschaftlern der DDR zwingend vorgegeben.
1957 erscheint die Erzählung Angst bei Reclam in Leipzig
— sie war schon vor dem II. Weltkrieg in Reclams Universal¬
Bücherei zu haben. Im Nachwort lobt Johannes Wenzel zwar
die indirekte Anklage gegen die bürgerliche Welt, doch bemän¬
gelt er, daß Zweig den Menschen keinen Weg zur Befreiung
aus dem Elend weisen kann. Er beanstandet Zweigs „frag¬
würdigen Kunstenthusiasmus, den sich abzeichnenden Ästhe¬
tizismus, der zur Wirklichkeitsentfremdung geführt hat“. Und
weiter: „Zweigs Betrachtungsweise hat natürlich ihre Grenzen.
Allein auf psychologische Untersuchungsmethoden aufbau¬
end, versteht er es nicht, seine Gestalten und ihre Konflikte im
Gesamtzusammenhang gesellschaftlicher und historischer
Kräfte zu deuten. Sich nur auf Menschen seiner Klasse be¬
schränkend, wußte er nichts von der Psyche der Ausgebeuteten
und Entrechteten.“ Im Erasmus zeigt sich für Wenzel die
Tragik des Humanisten Zweig: „Sie liegt im Geistesaristokra¬
tischen, im Nichtverbundensein mit der revolutionärsten Kraft
der Gesellschaft, dem Proletariat [...] eine solche weltan¬
schauliche Grundhaltung (Elite auf verlorenem Posten) mu߬
te zur Selbstentwaffnung fiihren und Stefan Zweig vom aktiven
Kampf gegen den Faschismus abhalten.“
1958 erscheinen in RUB Leipzig die Komödie Volpone und
bei Insel der Balzac. In der Zeitschrift Neue deutsche Literatur
vom November 1959 moniert Kurt Böttcher bei Zweigs philo¬
sophischen und historischen Auffassungen das Fehlen eines ob¬
jektiv-wissenschaftlichen Standpunkts und einer entspre¬
chenden Methode, was in seinen Darlegungen über die bewe¬
genden Kräfte der menschlichen Gesellschaft offenkundig wer¬
de. Doch begrüßt er die Mischung wissenschaftlicher Bemü¬
hung und dichterisch-bildhafter Gestaltung im Balzac als Mög¬
lichkeit, den Gegenstand unter neuen Aspekten zu behandeln.
Periode vom 13. August 1961 bis zum I. August 1973
Mit dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 wird der
Kontakt zwischen Menschen beider deutscher Staaten in den er¬
sten Jahren fast völlig unterbunden. Briefe und Pakete werden
auf „verbotenen Inhalt“ kontrolliert. Dazu gehörem alle Druck¬
erzeugnisse, also auch Bücher. Ab 1961 werden in den Büchern
der DDR nur mehr selten die Auflagenhöhen angegeben. Eine
geheime Anweisung der Hauptverwaltung Verlage im Mi¬
nisterium für Kultur fordert, im Verkehr mit westlichen Ver¬
lagen weniger Bücher als tatsächlich gedruckt abzurechnen.
1964 erscheinen in RUB Leipzig unter dem Titel Die un¬
sichtbare Sammlung vier Erzählungen, zwei Erzählungen da¬
von (Die unsichtbare Sammlung und Buchmendel) waren
schon im Auswahlband Kleine Chronik enthalten. 1966
kommt unter dem Titel Novellen eine zweibändige Auswahl
der erzählerischen Prosa Zweigs im Aufbau-Verlag heraus.
1971, im Jahr des 90. Geburtstages Zweigs, erscheint in RUB
Leipzig sein Briefwechsel mit Maxim Gorki, eine deutsch¬
sprachige Erstveröffentlichung. Außerdem erscheint 1971 der
Roman Ungeduld des Herzens im Aufbau-Verlag.
Mit dem Tod des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht am
1.8. 1973 geht eine Periode der Abgrenzung zwischen beiden
deutschen Staaten zu Ende.
Periode vom 2. August 1973 bis zum 9. November 1989
1974 wird in der DDR erstmals die erweitere Ausgabe der
Sternstunden der Menschheit im Aufbau-Verlag veröffentlicht.
Die Ausgabe enthält auch die Erzählung Der versiegelte Zug,
die von Lenins Fahrt 1917 im plombierten Waggon von der
Schweiz durch Deutschland nach Schweden und von dort wei¬
ter nach Rußland handelt. Das Buch erreicht in der DDR die
höchste Auflage (210.000).
Bis zum 100. Geburtstag Zweigs 1981 erscheinen außer
dem bibliophilen Sonderdruck Die Autographensammlung als
Kunstwerk (1974) und dem Libretto zur Oper Die schweigsa¬
me Frau von Richard Strauss (1980; Textbegleitbuch der
Schallplattenedition) noch drei Bücher, Auswahlbände der in
der DDR bereits veröffentlichter Novellen bzw. Erzählungen.
Der 100. Geburtstag leitet eine Wende in der Edition der
Werke Zweigs ein. Zwischen den Verlagen der DDR beginnt
ein Wettstreit um die Herausgabe von Zweig-Büchern, die
schon am Tag des Erscheinens restlos vergriffen sind.
Jetzt erst wird ein Teil des essayistisch-biographische Werks
publiziert. 1981 erscheint im Aufbau-Verlag, dem Verlag des
Kulturbundes der DDR, erstmals Die Welt von gestern. Der
Insel-Verlag gibt als ersten Band der Ausgewählten Werke in
Einzelausgaben den Balzac neu heraus. 1982 bzw. 1983 folgen
im Verlag der Nation, Berlin, dem Verlag der National-Demo¬
kratischen Partei Deutschlands, der Joseph Fouche und im
Insel-Verlag eine repräsentative, kommentierte Auswahl der
Essays aus den Jahren 1907-24. 1984 stellt der Gustav Kie¬
penheuer-Verlag, Leipzig und Weimar, ein Verlag der SED,
eine Stefan Zweig-Bildbiographie vor, die bereits 1981 in der
BRD verlegt worden ist. 1985 kommen im Buchverlag der
Morgen, Berlin, dem Verlag der Liberal-Demokratischen Partei
Deutschlands, der Magellan und im Insel-Verlag eine Auswahl
der Essays aus den Jahren 1925-28 heraus; 1986 der Erasmus
von Rotterdam im Buchverlag der Morgen. 1987 wird bei
Rütten & Loening, Berlin, der Briefwechsel mit Romain Rol¬
land herausgegeben. 1988 bringt Kiepenheuer Der Kampf mit
dem Dämon (Hölderlin-Kleist-Nietzsche) als selbständige Ver¬
öffentlichung. Schließlich erscheint 1990 im Insel-Verlag der
dritte Band der Essays aus den Jahren 1929-42.
Dem Fall der Mauer am 9. November 1989 und der Ver¬
einigung der beiden deutschen Staaten am 3.10. 1990 fallen
zahlreiche Verlage der DDR zum Opfer. Der S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main, Inhaber der deutschsprachigen Rechte am
Werk von Stefan Zweig, beliefert ab diesem Zeitpunkt den ge¬
samtdeutschen Markt mit seinen Zweig-Ausgaben.
Holger Naujoks, geb. 1960 in Dresden, studierte von 1980-84
in Halle an der Martin-Luther-Universität Volkwirtschaft,
anschließend Tätigkeiten im Rechnungswesen, Controlling und
Revision in verschiedenen Unternehmen. Seit 1982 fasziniert
vom Werk Stefan Zweigs; Forschungen zu dessen Leben und
Werk. H. Naujoks lebt in Bonn und ist ist Kurator und Verfasser
des Katalogs der Ausstellung: DDR-Ausgaben von Stefan
Zweig (1949-1990), 52 S. Die Ausstellung wurde gezeigt: Mu¬
seum Carolino-Augusteum Salzburg: 29.6.-31.8. 2002;
Universität Dortmund: 25.9.-28.9. 2002.