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Achtes Gebot: Dich soll der Hafer stechen

Auftritt die Konvention. Sie ist unkonventionell konventionell.
Sie verkündet: Franz Kain ist ein traditioneller Erzähler. Er
schreibt gediegen. Er ist kein Spracherneuerer. Er hält nicht
Schritt. Er zertrümmert nicht das bürgerliche Individuum. Sagt
die unkonventionelle Konvention, die mit der Werbewirtschaft
wetteifert.
Aufsteht der traditionelle Erzähler vom Wirtshaustisch. Er ist
der letzte Gast. Er macht ein paar Schritte. Vor der Tür, unter
dem Wirtshausschild, bleibt er stehen. Er wartet auf die
Kellnerin, die vorher geschwiegen hat, und das Schweigen
hieß, ich brauche dich. In der frischen Luft wächst die Sehn¬
sucht. Die Frau kommt, und gemeinsam gehen sie die Kapu¬
zinerstraße hinauf. Rechterhand liegt ein großes Haferfeld. Das
Getreide ist schon gelb und wartet auf den Schnitt. „Aber da
sticht ja der Hafer“, fragt die Frau und lacht leise. „Nein, nicht
auf dem Halm“, sagt der Erzähler, „es wird ein Bett sein, das
nach frischem und sauberem Stroh riecht.‘

Während die beiden langsam ins Haferfeld hineingehen, wo
sie bleiben werden, bis von der Donau her die Kühle über die
Hügel kommt -: abgeht, verdrossen, die Konvention.

Neuntes Gebot: Du sollst von einer freundlichen Welt träumen

Wer erzählt, ist guten Glaubens: Er glaubt an die Fähigkeit der
Menschen, ihre Erfahrungen einander anzuvertrauen. Ohne
Mitteilbarkeit von Erfahrung gibt es keine Veränderung. Aber
die Veränderung kann nicht der Erzähler bewirken. Er kann
aufrütteln, wachrütteln, was im Lesenden ruht. Er erzählt ge¬
gen den Strom, daher sein Grimm und seine Trauer. Er ist
empört, das darf man ihm auch anmerken. Aber er soll, meint
Franz Kain, manchmal auch vom Wunder eines Baumes spre¬
chen und überhaupt den großartigen Traum von einer freund¬
lichen Welt vermitteln. „Herzklopfen hervorzurufen ist
durchaus keine sündhafte Tat, auch nicht im Sinne der mate¬
rialistisch-dialektischen Auffassung.“

Zehntes Gebot: Du sollst weiter schreiben

Franz Kain schreibt Geschichten, aber er schreibt auch „Vom
Wagnis, Geschichten zu schreiben“. Seine Tochter Eugenie
schreibt vom Wagnis, Geschichten zu schreiben, wenn man ei¬
nen Geschichtenschreiber in der Familie hat: „Den schreiben¬
den Vater nimmt sie als Ansporn. Nicht um besser zu
schreiben, nicht um anders zu schreiben, sondern um weiter¬
zuschreiben.“

Weiterschreiben, doch auch weiter schreiben. Damit meine
ich nicht, neue Räume zu durchmessen, das Tote Gebirge und
die Donaubrücken zu meiden. Weiter schreiben, wo es enger
wird: Einmal erzählt Franz Kain von der Bedrängnis, in die,
gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, der evangelische Pfarrer
von Hallstatt geriet. Seine Frau, jüdischer Herkunft, sollte de¬
portiert werden. Er erfuhr es rechtzeitig und brachte sie heim¬
lich nach Passau, in ein Diakonissenheim. In Hallstatt setzte er
die Nachricht in Umlauf, sie sei in einem Anflug von Sinnes¬
verwirrung in den See gegangen. Um jeden Zweifel zu zer¬
streuen, sprach er während des Gottesdienstes von dem
schweren Verlust, den er erlitten habe, und er ließ die Ge¬
meinde auch für sie beten. Die Frau überlebte.

Das ist eine Geschichte, die Franz Kain geschrieben hat.
Aber er hat sie auch weiter geschrieben, bis dorthin, wo sie

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drückt: „Nach dem Krieg waren Gläubige dem Pfarrer böse
über sein Vorgehen. Daß er einen Selbstmord seiner Frau vor¬
getäuscht hat, wurde ihm verziehen, nicht aber, daß er für sie
hatte beten lassen.“

Einmal schreibt Kain von seinem Steyrer Genossen Alois Z.
Z. — heute ein liebenswürdiger alter Herr, geistig rege und po¬
litisch wach — war nach den Februarkämpfen 1934 in die
Tschechoslowakei und weiter in die Sowjetunion geflüchtet.
Seine großen Kenntnisse, schreibt Kain, sicherten ihm in einer
Uhrenfabrik hohes Ansehen. „Seine Arbeitskollegen wählten
ihn, den Ausländer aus Steyr, in den Moskauer Stadtsowjet.“
Das wäre schon eine Geschichte wert, Leben im Widerstand
und im Exil, Rückkehr nach Steyr, Wiederaufbau, Durchfretten
als Kommunist im Kalten Krieg. Kain hat diese Geschichte nie
geschrieben, nur angetippt. Würde man sie schreiben, müßte
man sie weiter schreiben, ausweiten auf Z.s Bruder Karl, der
als ebenso glühender Kommunist schon Anfang der dreißiger
Jahre in die Sowjetunion emigriert war. Er arbeitete in Moskau
in der Karl Liebknecht-Schule als Erzieher, bis er im März
1938 vom NKWD verhaftet und noch im selben Jahr nahe der
Ortschaft Butowo, südlich von Moskau, erschossen wurde. In
Butowo, heißt es, hat man Abend für Abend bis zu 500 angeb¬
liche Feinde, Spione oder Verräter hingerichtet. Etliche von ih¬
nen, darunter auch Karl Z., wurden Jahre später rehabilitiert.

Weiter schreiben, das hieße auch: schreiben, daß Alois an
Karl nicht erinnert werden will. Schreibend der Frage nachge¬
hen, ob es ihm damals in Moskau gelungen ist, sich zu seinem
Bruder zu bekennen. Ob er ihn aus Angst und Überzeugung
verleugnet hat, verworfen, vergessen. Und warum ihm heute,
nach sechzig Jahren, der andere so schwer über die Lippen
kommt. Warum will einer seinen toten Bruder tothaben, aus
Versehen. Warum kräht der Hahn zum dritten Mal.

Vom Wagnis, eine Geschichte zu schreiben. Nur wer es
wagt, sie weiter zu schreiben, trägt das Kainsmal auf Wange
und Stirn.

Erich Hackl, geboren 1954 in Steyr (Oberösterreich) und dort
auch aufgewachsen; Studium der Germanistik und Hispa¬
nistik. Lehrer und Lehrbeauftragter in Wien und Madrid. Ab
1976 regelmäßiger Mitarbeiter der Zeitschrift „Wiener
Tagebuch“. Übersetzer spanischer und lateinamerikanischer
Literatur, u.a. Herausgeber der Anthologie „Hier ist niemand
gestorben“. Seit 1983 freischaffender Schriftsteller, veröffent¬
lichte zahlreiche Essays und Porträts u.a. in WochenZeitung
(Zürich), Die Zeit (Hamburg), Die Presse, Mit der Zieh¬
harmonika, Der Standard (Wien), Literatur und Kritik (Salz¬
burg).

Bücher: Auroras Anlaß (1987); Abschied von Sidonie (1989);
König Wamba (1991); Sara und Simön (1995); In fester
Umarmung (1996); Entwurf einer Liebe auf den ersten Blick
(1999); Album Gurs (2000); Die Hochzeit von Auschwitz
(2002).