„Man muß sich Zeit lassen, viel Zeit. Sein ganzes Leben lang
muß man an einem Roman schreiben, an dem einen, an dem
seinen. Man muß unentwegt träumen von dem Werk, das man
schaffen will — und sich Zeit nehmen, Zeit. Aber der Traum
will auch einmal geschrieben sein, niedergeschrieben sein...
darum...naalso...“
Dieses Zitat schoß mir ein, als ich daranging, die Bücher
Franz Kains noch einmal zu lesen und mir dabei überlegte, was
wirst du in Innsbruck sagen. Wie entgehst du der ach so be¬
liebten Etikettierung, mittels der eine Autorin, ein Autor rasch
und bequem in einem Schubfach deponiert wird? Das Zitat,
das ich als Präambel seinen Abbreviaturen, Aus- und Ein¬
lassungen voransetzte, ist aus Johannes R. Bechers Roman¬
fragment „Wiederanders“ gezogen. Für Becher ist es bei dieser
Absichtserklärung geblieben. Ich sehe keinen Grund, den in
den Exiljahren entstandenen Roman „Abschied“ umschreiben
zu müssen. Der Umschreibungsversucg ist mißlungen. Aber
das Credo steht für poetische Selbstgestaltung. Becher war,
nehmt alles in allem, ein Selbstgestalter. Er hat sich das
Bekenntnis auf den Leib geschrieben. Lasse ich Revue passie¬
ren, was ich von Franz Kain weiß, kenne, gelesen habe, kom¬
me ich freiweg zu der Behauptung, Becher hat dies für Franz
Kain mitgeschrieben, und ich setze hinzu, paßt das Zitat nicht
doch erst recht, viel genauer für ihn?
Auf dieses eine Buch hin scheint alles geschrieben, was ich
von Franz Kain gelesen habe. Dieses eine Buch, auf das alles
zuläuft, speist sich aus dem selbsterlebten Leben, das gesucht
wie von den Zeitläuften getroffen, in die er hineingeboren, hin¬
eingeworfen wurde, zu einer wahrhaft simplicianischen
Biographie aufgelaufen ist, die bewältigt sein wollte in Form
literarischer Gestaltung.
Um sich mit Franz Kain in Beziehung setzen zu können,
muß ich hin und wieder von mir und meiner Herkunft reden.
Daraus könnte hervorgehen, was uns verbindet, wenn ich sei¬
ne Prosa lese. Vermutlich geht es nicht nur mir so, beim Lesen
jeweils den eigenen Text assoziativ-parallel mitzulesen. Für
mich immer ein Zeichen, ein Ausweis, daß mich Literatur be¬
trifft, daß ich mitgemeint bin. Schr früh, im juvenilen
Zustand geistiger Unausgegorenheit dämmerte mir dies zum
erstenmal, als ich von Oskar Maria Graf „Das Leben meiner
Mutter“ las, weil ich mich allein dank der sozialen Grun¬
dierung bei aller emotional-naiven Aufnahme so in Überein¬
stimmung wußte, daß ich mich damit identifizieren konnte.
Damit war es mehr nur als Lesefutter, das ich in diesem Sta¬
dium ziemlich wahllos in mich hineinschaufelte. Wahllos des¬
halb, weil ich wenig Wahlmöglichkeiten hatte. Graf nenne ich
nicht von ungefähr. Erich Hackel hat wohl als erster auf die
Verwandtschaft Franz Kains mit dem oberbayrischen Dorf¬
geschichtenerzähler Oskar Maria Graf verwiesen, was mich
besonders freut. Diese Beziehung liegt auf der Hand. Die Er¬
zählungen beider Autoren sind fast immer ausgesprochene
Kalendergeschichten, in denen vorzugsweise auf Anekdote
oder Episode gesetzt wird.
Als stärkstes Bindeglied empfinde ich jedoch den gemeinsa¬
men sozialen Grund. Franz Kain sagt dazu „das soziale
Unterfutter“. Daran geknüpft ist als bewegendes, mobilisie¬
rendes Element plebejisches Gerechtigkeitsgefühl, ein beson¬
ders stark entwickeltes Unrechtsempfinden. Das bei Franz
Kain auch sehr früh den politischen Weg bestimmt hat. Ich lege
Wert darauf, den Unterschied zwischen plebejisch und prole¬
tarisch zu betonen. Ersteres nehme ich als soziologischen
Begriff. Er bezieht sich auf die Schicht, aus der man stammt,
in der man lebt, in deren Lebensvorstellungen man schreibt,
auch dann noch, wenn man dieser Schicht vielleicht nicht mehr
angehört. „Proletarisch‘ wertet politisch, da kommt immer
Klassendenken ins Spiel. Mit diesem Impetus, mit dieser Welt¬
und Wertvorstellung, in die soziale wie regionale, historische
wie politische Aspekte einbezogen, in ein Landschaftsbe¬
wußtsein geradezu eingeschmolzen sind und eine Einheit bil¬
den, werden Welterkundungen erfaßt und Zeitläufte betrachtet.
Gerade in der landschaftlichen Verbundenheit fühle ich mich
Franz Kain am nächsten. Wie da einer unbeirrt seine Provinz
literarisch entdeckt und aufgehoben hat, finde ich insofern bei¬
spielhaft, weil in Österreich wie in Deutschland diese Fixie¬
rung auf ebenjene regional eingegrenzten Schauplätze, die gern
als Heimatdichtung apostrophiert wird, als anrüchig beiseite¬
gelassen oder gar diffamiert wird. Thematische Felder, die von
den Linken nicht „besetzt“ oder, agronomisch ausgedrückt,
„beackert“ werden, bleiben nolens volens den Rechten über¬
lassen. Natürlich weiß ich um die Vernutzung der Begriffe und
der Stoffe, daß man von den Erblasten nicht absehen kann.
Gerade weil Regionalliteratur undifferenziert abwertend gese¬
hen wurde und immer noch gesehen wird, weil alte Vorurteile
fortgeschleppt werden und von dem ihr angehängten Makel
nicht loskommt, hat Franz Kain als zu lang abgewiesener, aus¬
gesparter, nicht beachteter Autor empfindlich bis gereizt rea¬
giert. Zum Beispiel gegenüber linken Fundamentalisten. Er
war dann immer in der schwierigen Position, sich verteidigen
zu müssen, wenn es um die ach so vernutzten Begriffe wie
Heimat und Patriotismus ging, auch wenn er noch so beharr¬
lich Gegenwelt darstellte, Gegensprache schrieb. Trotzig
nannte er sich dann einen Antijodler. Seine schmerzhaften so¬
zialen Erfahrungen, die für ihn lebens- und wegbestimmend
waren, denen er seine Prägungen zu verdanken hatte, sind ohne
Verbundenheit zu seiner oberösterreichischen Landschaft
nicht zu denken. Und es ging ihm darum, die problematischen
Begriffe aufzurauhen. In dieser Beziehung weiß ich mich mit
Franz Kain eins und einig. Da diese heikle, immer wieder ver¬
teufelte Problematik zentrale Wertkategorien im Schaffen
Kains einschließt und weil dies ebenso meinem Schreib¬
programm zu entnehmen ist, muß ich darauf pochen. Wenn ich
über meine dörfliche Herkunftswelt, der einzigen, in der ich
mich einigermaßen auskenne, geschrieben habe, war ich mir
als Schriftsteller meiner Randständigkeit und Außenseiterrolle
bewußt, aber ich war dabei doch noch eine Stimme im Chorus
einer Generation, die ab 1960 auf den Plan trat. Dies unter¬