lichen Explosionen überhaupt hatten standhalten können. Nun,
sie haben ihr genauso standgehalten wie Simplicius den
Wirren und Schrecklichkeiten des Dreißigjährigen Krieges:
durch die Naivität einer kreatürlichen Selbstbehauptung.
Die simplicianischen Naturen dieses Jahrhunderts ent¬
stammen vornehmlich den Jahrgängen zwischen 1918 und
1926. Aufgewachsen in den Turbulenzen der zwanziger Jahre,
die Jugendjahre beim Einüben in den Gleichschritt verbracht,
die frühen Mannesjahre auf den Schlachtfeldern Europas her¬
umgestolpert, zuerst als Jäger, dann als Gejagte und schlie߬
lich besiegt: Den Fuß der Sieger im Nacken, elend an Leib und
Seele, richtungslos und auch wertlos im doppelten Wortsinn,
versuchten sie, Wegweiser zusammenzuschustern in eine
menschlichere Zukunft.
Aber was ist menschlich? Die Biedermannsphrasen von
Menschlichkei haben mit der menschlichen Wirklichkeit soviel
zu tun wie eine sentimentale Schnulze mit einer antiken Tra¬
gödie. Das heißt, auch in der „neuen Welt“ der Nachkriegs¬
jahre blieben die Simplicianer Fremde — bis heute.
Wulf Kirsten, 1934 in Klipphausen (Thüringen) geboren, be¬
gann als Verkäufer, Hilfsarbeiter, Buchhalter, studierte 1960¬
64 in Leipzig, war 1965-87 Lektor beim Aufbau-Verlag in
Weimar; seither freischaffender Schriftsteller; vor allem als
Lyriker vielfach ausgezeichnet (u.a. Johannes R. Becher-Preis
1985, Peter Huchel-Preis 1987, Heinrich Mann-Preis 1989,
Elisabeth Langgässer-Preis 1994, Weimar Preis 1994, Horst
Bienek-Preis 1999, Marie Luise Kaschnitz-Preis 2000). Her¬
ausgeber der Thüringen-Bibliothek im Hain-Verlag, Rudol¬
stadt.
Veröffentlichte zuletzt: Wettersturz (Gedichte, Zürich 1999);
Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit (Prosa;
Zürich 2000); Zwischen Standort und Blickfeld (Gedichte und
Paraphrasen, Leonberg 2001).
Während und unmittelbar nach einem Ereignis dringen über
die Augen die Bilder in das Großhirn und suchen Verknüp¬
fungen mit Erinnerungselementen.
Es geht um die Einordenbarkeit. Das geht schnell. In Milli¬
sekunden. So schnell arbeitet der schnellste Rechner nicht.
Aber Erinnerungsbilder gibt es nicht.
Die nächste Etage sind Verknüpfungen mit Geräuschen und
Gerüchen.
Wenn möglich.
Hier wird Etwas fündig. Undifferenziert.
Inzwischen sucht das Zentrum für Sprache nach Worten.
Aber die gibt es nicht. Noch nicht.
Nur Synonyme. Metaphern.
Die Motorik sendet ein Grundsignal in den Bewegungsapparat:
auf und ab gehen, sich mit der Hand die Augen bedecken, an
den Kopf greifen.
Und noch immer kein Wort.
Inzwischen haben neuronale Verbindungen eine Geruchs¬
identifikation entdeckt. Der Vergleich mit Etwas funktioniert.
Dann kommt ein erstes Wort aus dem Reservoir der Erin¬
nerungen.
Aber nicht das richtige. Ein Wort, welches das Ereignis ein¬
deutig machen könnte. Sprachlich nachvollziehbar.
Ein weiteres motorisches Signal lässt den Kopf schütteln.
Als ob es das soeben Gefundene verwerfen wollte.
Gleichzeitig mit der Suche nach Worten, brechen Emotionen
aus. Über diesen Umweg wird das Etwas an das Archiv der
Anhangsbilder aus vergleichbaren bekannten Ereignissen her¬
angeführt.
Erleichterung setzt sich atemzugweise durch. Das Geschehen
ist emotional definierbar.
Aber es gibt noch immer keine Worte.
Die Begleitbefindlichkeit, nichts machen zu können, nimmt
mit der Dauer der Suche nach Worten proportional zu. Es er¬
zeugt das Gefühl der Ohnmacht.
Ohnmacht, sagt sich so leicht. Es ist der Begriff, der das Nichts
in der Suchmaschine definiert. Der höchstens das Paradoxon
aufzeigt, dass mit Sprache das Unaussprechliche beschrieben
werden soll. Es ist der Beginn einer Analphabetie.
Es suggeriert Bewegungslosigkeit. Ein aus der Fassung fallen.
Ein Nach-Worten-ringen. Ein interdisziplinäres Phänomen von
Physiologie, Psychologie, Neurologie und Literatur.
In diesem Abgrund macht sich später eine Sprachanpassung
durch die Medien breit. Aber diese Worte sind nicht die eige¬
nen Worte. Weil es sie vielleicht gar nicht gibt.
Die Nebenwirkungen treten erst im Laufe der Jahre auf.
Konsultieren Sie ein Wörterbuch des Vertrauens. Und ordnen
Sie die fehlenden Wörter ein.
Hans Augustin, geb. 1949 in Salzburg; lebt in Thaur. 1973-76
Studium der Philosophie, Archäologie und Kunstgeschichte in
Salzburg; 1976-80 Medizin- und Italienischstudium in Inns¬
bruck. 1981 Gründung des Verlags Handpresse; Ausstellungen
zur Konkreten Poesie; seit 1991 freiberuflicher Autor; 1988-95
Mitherausgeber der Literaturzeitschrift „Inn“. Zahlreiche
Auszeichnungen und Preise, u.a. 1990 Kulturpreis der Stadt
Innsbruck, 1991 Literatur-Stipendium des Landes Tirol, 1993
Lyrik-Preises der Stadt Meran, 1995 Max-von-der-Grün-Preis.
Veröffentlichungen u.a.: Die Anhänglichkeit des Reisenden an
den Weg (Gedichte, Innsbruck 1990); Sturm in den Achsel¬
höhlen (Gedichte (Baden b. Wien, 1996); Grosnyj (Erzäh¬
lungen, Innsbruck 1998); Weggelebte Zeit (Gedichte, Innsbruck
2001). Zahlreiche Arbeiten für den Rundfunk.