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Anläßlich einer Gedenkfeier, die am 24. Mai in Neustadt im Hochschwarzwald stattfand (die Urne von Moses Rosenkranz wird in Stuttgart beigesetzt), verabschiedeten sich die Getreuen vom letzten großen deutschen Dichter der Bukowina. Mit ihm ging sprichwortlich ein Jahrhundert zu Ende, aber sein lyrisches Werk — obwohl so vieles davon verloren ist — schärft uns den Blick für das, wie alles einmal war. Der Lyriker und Sänger Wolf Biermann gestaltete diese Feier. Nicht nur die anrührend warmen und freundschaftlichen Worte die er über Rosenkranz und seine Witwe Doris sprach, machten das Gedenken ergreifend, es war vor allem das von Biermann vertonte und zum Spiel seiner Gitarre vorgetragene Gedicht „Dem Ende zu“, das Rosenkranz, gespeichert im Kopf vom Gulag her, 1957 erstmals niederschrieb und wo es im Schlußvers heißt: „Nun ists vorüber unbegrenzte Ferne/ nur Licht und Wasser nimmt mich still entgegen/ sie eilt mich nicht und wartet bis ich lerne/ mich wie ein Tropfen in ihr Meer zu legen.“ Die Godderidges waren zweifellos wer in Viehofen, einer eigenen Gemeinde bis 1923 und heute Stadtteil von knapp über 4.000 Einwohnern der nunmehrigen Landeshauptstadt St. Pölten. Mehr als sechs Jahrzehnte lang behaupteten die Godderidges ihre Stellung als führende Familie einer nicht einmal so kleinen Industriestadt. Der 1840 in Paris geborene, britische Stammvater des Hauses, Charles Godderidge, leitete ab dem Gründungsjahr 1867 die von seinem Onkel Fred Austin gegründete „Spitzen-Bobinet und Vorhänge-Fabrik F. Austin“ auf dem Gelände der ehemaligen Spiegel-Fabrik Viehofen. 1888 starb Austin, und Godderidge führte das Unternehmen erfolgreich weiter. 1891 wurde die Firma, die zu diesem Zeitpunkt rund 170 Mitarbeiter, darunter 60 % Frauen, beschäftigte und über 35 Maschinen verfügte, mit dem kaiserlichen Adler ausgezeichnet. Die Spitzen aus Viehofen wurden unter anderem nach Bulgarien, Griechenland, Rumänien, Serbien und in die Türkei exportiert. Der Unternehmer, der seinen Betrieb ständig vergrößerte, gründete auch eine Betriebsfeuerwehr, war Ehrenvorstand der Freiwilligen Feuerwehr Viehofen und einer der Hauptsponsoren des 1888 konstituierten Viehofener Kirchenbauvereines. Nach dem Tod Charles Godderidges im Jahr 1903 führten seine drei Söhne den Betrieb weiter. Ab 1912 modernisierte John fabrik, in dem Josef Bayer seine „Puppenfee“ komponiert hat. 18 Godderidge als Leiter der nunmehrigen „Spitzenindustrie AG“ das Unternehmen, das 1914 bereits 600 Mitarbeiter zählte. First Family Viehofens Die Familie Godderidge war aber auch gesellschaftlich aktiv. Nicht nur als maßgebliche Sponsoren für die Errichtung der heutigen Pfarrkirche. Im Herrenhaus der Godderidges nahe dem Areal ihrer Fabrik komponierte Hofopernkapellmeiser Josef Bayer sein weltbekanntes Ballettmärchen „Die Puppenfee“, und ein Kreis von mehr oder weniger prominenten Wiener Sängern, Tänzern, Choreographen, Librettisten und Schauspielern rund um Bayer produzierte sich alljährlich in der Viehofener Sommerfrische. John Godderidge fungierte als erster Präsident des 1913 gegründeten „St. Pöltner Sportclub“, des ältesten Fußballvereins der nunmehrigen Landeshauptstadt. Eine Godderidgegasse und eine Austinstraße waren schon um die vorletzte Jahrhundertwende der Dank des Viehofener Gemeinderates. Erst 1930 endete die Ära Godderidge in Viehofen, als das Unternehmen in der Weltwirtschaftskrise unterging Die einst führende Rolle der Familie auf wirtschaftlichem, aber auch gesellschaftlichem Gebiet wird bis heute auch unübersehbar durch die imposante Godderidge-Gruft am Viehofener Friedhof dokumentiert. Dieses stolze Bauwerk, das den Stadtteilfriedhof dominiert, hat nur einen kleinen Schönheitsfehler, nämlich die nachstehende Inschrift auf dem schwarzen Mittelteil der Grabanlage: W.O. GODDERIDGE „PIPSI“ 44 SCHARFUHRER GEB. IN VIEHOFEN AM 15. SEPT. 1908 VERUNGLÜCKT IN ROTENBURG AM 6. MAI 1937 Der Herr Scharführer möge in Frieden ruhen, aber haben die SS-Runen in Viehofen, immerhin seit eh und je eine sozialdemokratische Hochburg, seit 1945 wirklich niemanden gestört? Gilt das 1946 beschlossene Verbotsgesetz, das auch die öffentliche Zurschaustellung von nationalsozialistischen Symbolen verbietet, auf Friedhöfen etwa nicht? Gibt es in Viehofen eine Friedhofsordnung?