ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT
In zahlreichen Kritiken wurden seine Leistungen als Chorleiter
und Dirigent gewürdigt, mit Ausnahme von Ragnar Jönsson, der
fast immer ein Haar in der Suppe fand. Urbancic war ihm of¬
fenbar als Dirigent zu weich, zu musikantisch, Ragnar bevor¬
zugte eher das zackige, „preusssische“ Dirigat von Röbert
Abraham Ottöson, des Orchesterchefs am Nationaltheater. Eine
sehr subjektive vorgenommene Wertung, die nicht einmal von
ausführenden Musikern geteilt wurde. In seinen Memoiren
schreibt der ehemalige Kontrabassist des Isländischen Sympho¬
nieorchesters, Erwin Koeppen:
Beide waren hervorragend gebildete Musikerpersönlichkei¬
ten, wenn auch mit gewissen Eigenheiten, die manchmal Ver¬
stimmung, manchmal Belustigung hervorrief. [...] Während der
österreichische Dirigent die Kunst der Stabführung in Österreich
studiert und ausgeübt hatte, war der deutsche Dirigent ur¬
sprünglich Musiktheoretiker |... ] Er konnte daher in der ersten
Zeit eine gewisse Unsicherheit nicht verbergen.”
Im Sommer 1957 erlitt Victor Urbancic einen leichten Schlag¬
anfall, der ihn für einige Tage ans Bett fesselte. Urbancic erholte
sich schnell und konnte die Arbeit rasch wieder aufnehmen. In
diesem Sommer kam er ein letztes Mal nach Österreich und rei¬
ste mit seiner Frau und seiner Tochter Eirika unter anderem auch
nach Preddvor in Slowenien. Im Winter 1958 unternahm Ur¬
bancic, ausgestattet mit einem Fulbright-Stipendium, eine
Studienreise in die USA, um sich auf dem Musicalsektor kun¬
dig zu machen. Bei diesem Aufenthalt konnte er den jungen
Lenny Bernstein bei der Arbeit beobachten. Die letzten Auf¬
führungen, die Urbanceic leitete, war die Bühnenmusik zum
Schauspiel Ulla Winblad des schwedischen Dichters Carl Michael
Bellmann. Wenige Tage nach seiner Rückkehr stürzte Urbancic
bei einer Probe im Nationaltheater und konnte nicht mehr oh¬
ne fremde Hilfe aufstehen. Nach wenigen Tagen verschlechterte
sich durch diesen erneuten Schlaganfall sein Allgemeinzustand.
Ein Krankentransport, der ihn in zu einer Operation in eine Klinik
nach Wien bringen sollte, wurde organisiert. Urbancic befand
sich bereits auf dem Flughafen in Reykjavik, als mitgeteilt wur¬
de, daß der Flug von Hamburg nach Wien verschoben werden
müsse. Melitta Urbancic kehrte mit ihrem Mann nach Hause
zurück. Urbancic starb am nächsten Tag, dem 4. April 1958, am
Karfreitag. Er wurde nur 54 Jahre alt. Beim Begräbnis erklan¬
gen unter anderem zwei Sätze aus dem Brahmsrequiem. Urbancic
wurde auf dem alten Friedhof in Reykjavik, unweit des Stadtteichs
Tjörnin, begraben. Sein Grab ziert das Modell einer Orgel aus
Basaltsteinen, das seine Frau Melitta angefertigt hat.
Im Herbst desselben Jahres fand im Nationaltheater ein
Gedenkkonzert für Victor Urbancic statt. Jon Leifs hielt dort stell¬
vertretend für die Komponistengesellschaft Islands eine Ge¬
denkrede, die sich auch als Anklage lesen läßt. Unter anderem
hieß es darin:
Man muß sagen, daß die Ursache für seinen Tod in der Übe¬
ranstrengung wegen der Schwierigkeiten in unserem immer noch
wenig entwickelten Musikkulturleben liegt. Seine Güte und sei¬
ne Gewissenhaftigkeit sind bekannt. Er war immer bereit, al¬
len zu helfen und praktisch jede Aufgabe, die ihm überantwortet
wurde, anzupacken, selbst wenn sie kaum zu lösen war, und er
gab immer sein Bestes. [...] Wenn die Umwelt zu viele Anfor¬
derungen stellt und man die Miihle tritt ohne ein Ende abzu¬
sehen — dann geht man kaputt.”
Als Komponist war Urbancic aufgrund seines immensen
Arbeitspensums in Island kaum mehr in Erscheinung getreten.
Ein von Urbancic selbst angefertigtes, aber unvollständiges
Werkverzeichnis weist immerhin über vierzig Arbeiten aus. Der
Großteil der Kompositionen entstand allerdings in den Stu¬
dienjahren und den Arbeitsjahren vor dem Zweiten Weltkrieg.
Dazu gehören vor allem Kammermusik, darunter die Fantasie¬
sonate in h-moll op. 4 von 1924 für Klarinette und Klavier, die
Urbancic gemeinsam mit Professor Wunderlich, dem ersten
Klarinettisten an der Wiener Staatsoper, uraufgeführt hatte, ein
Trio für Klarinette, Cello und Orchester (1921) sowie zahlrei¬
che Lieder, die in ihrem spätromantischen Duktus den Einfluß
von Hugo Wolf und Gustav Mahler erkennen lassen. Zu diesen
zählt auch der Liederzyklus Elisabeth, für den Urbancic Texte
von Hermann Hesse verwendete. Daneben gibt es eine Reihe
von Bühnenmusiken, ein fünfsätziges Werk für Klavier und
Blechbläser (1939), ein Concertino für drei Saxophone und
Streichorchester (1945), die Messe, von der bereits die Rede war
(1946), weiters eine dem Isländischen Symphonieorchester ge¬
widmete burleske Orchesterouvertüre in C-Dur (1952).
Die Beschäftigung mit der isländischen Tradition belegt ei¬
ne Sammlung von 50 Volksliedsätzen, die Urbancic herausge¬
ben wollte. Bisher sind allerdings erst zehn davon, alle davon
arrangiert von Victor Urbancic, in Druck erschienen.” Leider
sind nur ganz wenige Tondokumente von Aufnahmen Victor
Urbancic’ erhalten. Mitarbeiter des isländischen Rundfunk, für
den Urbancic im Laufe der Jahre an die 200 (!) Aufnahmen ge¬
macht hatte — darunter die großen Oratorienaufführungen der
vierziger Jahre, Operettenaufführungen, Opern aus der Grün¬
dungszeit des Nationaltheaters — hatten Bänder in Unkenntnis
ihres historischen Wertes überspielt, verschlampt oder schlicht
und einfach weggeworfen. Erst vierzig Jahre nach ihrer Ent¬
stehung kam im Jahr 1996 die Kantate Ödur Skälholts von Victor
Urbancic zur Aufführung. 1956, zur Feier des 900. Jubiläums
der Bischofsweihe des ersten Isländers in Skälholt im Süden der
Insel, war ein Kompositionswettbewerb ausgeschrieben wor¬
den, bei dem zwei Preise vergeben worden waren. Päll [s6lfs¬
son gewann den Wettbewerb, seine Kantate wurde damals von
einem 340köpfigen Chor, dem größten, der bisher offiziell auf
Island gesungen hat, aufgeführt. Urbancic umfangreiche Kom¬
position (die Partitur umfasst 154 Seiten) aber blieb liegen. Die
Erstaufführung der Kantate, dirigiert von Jön Stefänsson, kam
auf Initiative des Klarinettisten Kjartan Öskarssson zustande,
der seine musikalische Ausbildung in Wien erhalten hat und im
übrigen auch die Fantasiesonate auf CD einspielte. Sein Engage¬
ment mag als Beispiel für eine in den letzten Jahren einsetzende
kleine Renaissance in der Rezeption jener Musiker (zu denen
auch Urbancic zählt) gelten, die vor dem Krieg, aus dem Ausland
kommend, viel für die Entwicklung der musikalischen Szene
in Island beigetragen haben. Seither fand die Arbeit von Urbancic
auch in einigen wissenschaftlichen Arbeiten eine späte Wür¬
digung.
1997 verfasste Adalheiöur Porsteinsdöttir die erste Diplom¬
arbeit über Victor Urbancic an der Musikschule (Konser¬
vatorium) in Reykjavik, in mehreren Artikeln haben sich beson¬
ders die Musikwissenschaftler Bjarki Sveinbjörnsson und Är¬
ni Heimir Ingölfsson um das Andenken an Victor Urbaneic ver¬
dient gemacht.
In Österreich ist der Name Urbancic nahezu unbekannt, sei¬
ne Leistungen und Kompositionen vergessen. Es ist eine bit¬
tere Wahrheit, daß etwa Urbancic’ musikalische Aufbauleistung
in Graz unerwähnt blieb, während seinen damaligen Kollegen