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Im nächsten vorhandenen Brief - Alice Penkala und ihr Mann
hatten endlich ihre Visa und wollten in wenigen Tagen Tanger
verlassen — erteilte Flinker am 17.2. 1946 in französischer
Sprache den Freunden nützliche Ratschläge für die Reise quer
durch Spanien. Vor allem aber schilderte er ihnen, was sie in
Frankreich erwartete: Die Tage, die Sie jetzt erleben, diese Tage
VOR der Abreise aus Tanger, sind — glauben Sie mir — die schön¬
sten. Denn alles was nachher kommt ... wird auch fiir Sie mehr
oder weniger eine Uberraschung sein. ... Manchmal sagt man
sich, daß in Europa niemals mehr Ordnung eintreten wird. ...
Nehmen Sie alle Kleidung mit, lassen Sie nichts in Tanger, denn
hier und vermutlich überall in Frankreich sind diese Dinge nicht
zu finden. Nein, ich muß mich korrigieren: Nichts ist unfindbar,
es gibt alles und sogar im Überfluß, aber nicht zu regulären
Preisen, sondern nur sehr sehr teuer also nur für Privilegierte
oder Profiteure. Die Profiteure — diese Art Menschen gibt es übe¬
rall. Man hat den Krieg geführt, damit die Gerechtigkeit wie¬
der ihren Platz findet, damit die Menschen überall glücklich sein
sollen, für die menschliche Würde ... und nun sind die Menschen
wirklich glücklich geworden, vorausgesetzt daß ihre Brieftasche
gut gefüllt ist. Sonst können sie, ja haben sogar das Recht zu kre¬
pieren.

Eindringlich beschrieb er die Versorgungsengpässe, den
„Marche noir“ (Schwarzmarkt) und die Schieber und riet den
Freunden, gewisse Lebensmittel aus Tanger mitzubringen, weil
sie im desorganisierten Frankreich von höchstem Tauschwert
waren: Schokolade, Milchpulver, Zündhölzer, Sardinen.

Aber er kam auch auf die eigene triste Lage zu sprechen:

Ich fühle mich wie eine Kugel, die lange (leider zu lange!) in
einem Loch lag. Diese Kugel war in dieses Loch gefallen — vor
mehr als sechs Jahren und sie konnte nicht mehr heraus. Jetzt
endlich konnte sie es verlassen. Und sie fängt wieder zu rollen
an... Wohin? In welche Richtung? Wo wird sie ankommen und
wo, in welches Loch wird sie noch einmal fallen. Wer weiß es?
Wir sind alle Kugeln. Wir rollen, ohne zu wissen wohin. „Wohin
rollst Du Äpfelchen?“ (Den letzten Satz fügte Flinker in deut¬
scher Sprache an.°)

Im April 1946 wechselte Flinker sein Pariser Hotel, selbst
die einfachen Zimmer waren zu teuer. Sein Sohn Karl wohnte
nun günstig in der Cit€ Universitaire. Er genoß sein Studen¬
tenleben, fand Zugang zu den Familien von Studienkollegen,
die ihn auf das Land und in Ferien mitnahmen. Sein Vater konn¬
te ihn verstehen, der Sohn sei dort besser aufgehoben, „,... nicht
immer neben seinem traurigen und melancholischen Vater“.

Ende des gleichen Monats antwortete ihm Alice Penkala auf
Deutsch. Sie machte sich Sorgen um den Freund und erzählte
ihm zur Aufmunterung detailliert und lebhaft von ihrem neu¬
en Leben in der Provence, wo sie Ende Februar eingetroffen war:

Wir sind, seit wir aus Tanger weg sind, wieder viel jünger,
optimistischer und lebenslustiger. Stany nimmt zu und ich neh¬
me ab, so wie es sich gehört. Bisher ist hier auf dem „Plantier““
schon recht viel gemacht worden: vor allem Erdäpfel gepflanzt,
eine Quelle, die sich im Berg verlor, mit Bewilligung ihres Eigen¬
tiimers — in diesem komischen Land sind Sachen wie Quellen
Privatbesitz - auf das Grundstück gelenkt, die Obstbäume ge¬
pflegt, die Olivenbäume beschnitten. Ich spiele Landwirtsgattin,
mache Palatschinken und Torten ohne Eier (was eine wirkliche
Wiener Hausfrau um nichts in der Welt täte), wasche Wäsche und
schreibe Reportagen und Kurzgeschichten, die Kalmer in London
verkauft. Vorläufig überweist er die Honorare meiner Schwester,
weil er nicht weiss, wie sie mir zukommen lassen: aber ich den¬
ke, früher oder später wird man schon Mittel und Wege finden.

Ich wäre, aus rein egoistischen Motiven, sehr froh, Sie hier zu
haben.

Nach äußerst reizvollen Bildern des mediterranen Landlebens
stellte die Freundin Überlegungen an, ob Flinker wohl eine ähn¬
liche Existenz aufbauen könnte. Daß dieses bäuerliche Dasein
aber auch auf Kosten ihres Brotberufes ging, in den sie bald wie¬
der einsteigen wollte, verbarg sie nicht:

Mir bleiben, wenn das Wetter schön ist, höchstens zwei Stunden
täglich für die Maschine. Und die frißt die sogenannte Litera¬
fur.

Flinkers Sohn Karl hatte, als ein zu früh aus der Kindheit ge¬
jagter Junge, in ihrem Herzen einen besonderen Platz:

Wir sind so froh über ihn, daß er aus dem gräßlichen Tanger
draussen ist. Wissen Sie, die Altersklasse von Karli, das sind die
wahren Opfer der verbrecherischen Blödheit unserer Genera¬
tion. Wir Alternden, wir haben wenigstens eine mehr oder we¬
niger normale Jugend gehabt. Der große Schock kam, als uns,
psychisch und moralisch, nicht mehr viel passieren konnte, als
wir bereits erwachsen waren. Ich weiß nicht, ob Sie sich klar dar¬
über sind, welche Herkulesarbeit Sie geleistet haben ... ein Wiener
Bub, in dieses Pestnest Tanger verpflanzt und er ist sauber ge¬
blieben. Ist anständiger, ehrlicher, verantwortungsbewußter und
— sagen wir es nur, besser, als wir in seinem Alter gewesen sind.
Ich weiß nicht, wem das Verdienst zukommt: Ihnen oder ihm. Oder,
wahrscheinlich, beiden zu gleichen Teilen.

Flinker ließ in seiner Antwort vom Mai, diesmal ebenfalls
auf Deutsch, die eigene Mutlosigkeit durchblicken, wurde aber
doch vom Lebensmut der Freundin angesteckt:

Leider sind Sie uns recht spät über unseren Weg gelaufen, wir
hätten die harte Zeit des Exils in Tanger besser gelebt, wenn wir
Sie etwas früher kennengelernt hätten. An Euch Beiden darfman
sich ein Beispiel nehmen dafür, daß der Mensch nicht verzagen
darf. Und daß er erst verloren ist, wenn er sich selbst für ver¬
loren hält und sich abschließt vor der Mitwelı. ... Ihr habt Euren
guten Humor erhalten, Sie speziell, liebe Frau Penkala, haben
sich scheinbar schnell und frischfröhlich in Ihr neues Leben und
in die neue Umgebung eingefunden, was umso seltsamer ist, als
Sie ja immer eine Stadtpflanze waren und ich Sie mir schwer als
Landedelfrau vorstellen kann ...

Er stellte sich die Frage, ob er wohl ähnlich leben könnte und
meint:

... So glaube ich ohne Zögern mit einem Ja antworten zu kön¬
nen. Ja auch ich könnte mich frei machen von dem, was die

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