Menschen so fälschlich das städtische Kulturleben nennen. Unab¬
hängig sein, nicht mehr um die Zukunft bangen, ach, wie lange
wird denn noch diese meine sogenannte ‚Zukunft’ dauern. Wie
bald wird alles aus sein und ich werde abgehen. ... Unabhängig
sein, nicht mehr um die Zukunft und um das Brot, das bisschen
Brot bangen: Das ist es allein, was ich noch anstrebe.
Und damit bin ich mitten in der Frage, ... was ich hier ma¬
che und was meine Pläne sind.
Als wir herkamen, wollten wir entweder nach Wien zurück oder
nach USA. Was nun Wien betrifft, ist diese Absicht endgültig auf¬
gegeben. Wien, das alte Wien, das wir gekannt haben, besteht
nicht mehr. Thomas Mann hat mir in einem langen Brief geschrie¬
ben, daß er von mir den Eindruck habe, daß ich in Träumen le¬
be: Mein ,Heimverlangen’ sei in seinen Augen so ein Traum gewe¬
sen. Nun, aus diesem Traum bin ich erwacht; bin tiberhaupt aus
meinem Traumleben erwacht und möchte nicht wieder in neue
Träume fallen, weil mir das Erwachen doch zu wehe tut. Was aber
die Reise nach USA betrifft, so haben sich plötzlich neue Schwie¬
rigkeiten ergeben. ... Nun, ... so erstrebenswert ist das Sklaven¬
leben in New York denn doch nicht, daß wir uns um diese Reise
so die Augen ausweinen müssen.
Was also besseres, als in Frankreich zu bleiben. Wer einmal
in Frankreich ist, der soll nicht fort, sagte mir hier ein Freund:
und ich glaube, daß er nicht Unrecht hat und daß das auch die
Meinung des Herrn Penkala ist.
Mein Sohn begrüßt diese Lösung. Bleibt die Frage, was mit
dem Alten geschehen soll. Was soll dieser Alte — das bin näm¬
lich ich.
Nach Darlegungen seiner Wohnungs- und Arbeitssituation
— dunkle freudlose Hotelzimmer und jämmerliche Nachhilfe¬
stunden - rätselte er über seine weitere berufliche Laufbahn:
Ist das ein Leben? Hat der Jammer der achtjährigen Emi¬
gration einen Sinn gehabt, den Sinn also, dorthin zu landen, wo
ich jetzt bin. Nein, das glaube ich nun nicht.
Ich habe, auch ich, in Paris gute Verbindungen und sehr ein¬
fluBreiche Freunde: Manche von ihnen raten mir, mir hier ei¬
nen neuen Verlag zu gründen, andere empfehlen mir, eine Buch¬
handlung zu schaffen und zu leiten. Sie wollen mir vielleicht so¬
gar mit Krediten beistehen. ... Das alles aber reizt mich doch
nicht. Irgendwie wehrt sich etwas in mir gegen die Idee, wie¬
der in ein Joch gespannt zu sein, wieder Sklave werden eines
Betriebes, gehetzt und getrieben, von Spesen erdrückt, von
Angestellten umgeben, die Einem fremd und feind bleiben, auch
wenn man hundertmal nur für sie und nicht für sich selbst ar¬
beitet.
Begreifen Sie also, liebe Frau Penkala et comprenez vous,
cher et brave Monsieur Penkala, daß mich manchmal leise die
Wehmut beschleicht im Gedanken an die Sonne von Tanger: An
die Araber, die den den ganzen Tag in der Sonne sitzen und den
Europäern zuschauen, wie die sich abhetzen und Geschäfte ma¬
chen, während sie selbst nur träumen oder gelegentlich einen
kleinen Griff machen in eine fremde Europäertasche. An die
Früchte, die Orangen, die Zitronen, an den Kaffee... und im¬
mer wieder an die Sonne. Begreifen Sie es?
Flinker erwog ernstlich, sich im Süden niederzulassen und
bat die Freunde um Rat:
Nehmen wir etwa an, ... daß ich also eine Summe von etwa
200 bis 250.000 Francs® auftreiben kann, etwas mehr vielleicht:
Was könnte ich damit dort erwerben? Ein kleines Grundstück?
Ein kleines Häuschen? Könnte ich darauf und vom Ertrag le¬
ben, wenn ich bescheiden lebe? Und wenn ich fleissig bin, könn¬
te ich etwas daraus machen?
Oder, eine andere Idee: Könnte ich mir nicht an der Cöte, et¬
wa in Cannes oder Nice ein kleines Kaffee-Haus machen? So
ein berühmtes, kleines Wiener Kaffee? Wo ich den Leuten etwas
zum Essen und zum Trinken gebe, zugleich aber mein eigener
Herr bleibe und an meinem eigenen kleinen Tisch sitzen und zu¬
sehen und träumen kann: in der Sonne und im Licht und unter
Menschen. Was kosten leere, nicht allzu schlecht gelegene, klei¬
ne Lokale in Cannes oder Antibes oder Nice? ... Was mir vor¬
schwebt, ist, mich selbständig und unabhängig zu machen von
den Menschen, nicht Angestellter sein und auch nicht Unter¬
nehmer einer großen, erst zu errichtenden Firma, mich abtöten
in Angst und Mühe, um eines Tages abzukratzen, müde und ver¬
bittert und erschöpft. In der Sonne sein, unter Menschen: und
doch auch allein.
Denn noch bin ich nicht alt. Noch bin ich fähig, etwas zu schaf¬
fen, noch fühle ich die Kraft in mir, zu leben und am Leben mich
zu freuen.
Aber es darf nicht zu lange dauern. Nicht nur esse ich sonst
peu a peu alle meine letzten ressourcen auf, sondern verliere ich
auch peu-ä-peu alle meine letzten inneren ressourcen.
Die Penkalas antworteten postwendend:
Gegen das ‚Wiener Kaffeehaus’ sind wir alle beide. Sie ah¬
nen nicht, welche Sklaverei es ist! Sie sind NICHT Ihr eigener
Herr da, im Gegenteil! Und es dauert den ganzen Tag und die
halbe Nacht und die Steuern ersticken Sie und wenn Sie nicht ‚mar¬
che noir’machen, verdienen Sie nichts und wenn Sie ‚marche noir’
machen... lieber Freund, Sie können das bestimmt nicht. Sie las¬
sen sich sofort erwischen! Und außerdem mögen Sie das nicht.
Hingegen schlugen Sie ihm vor, ein Häuschen vorerst zu mie¬
ten, eventuell Tiere zu halten und Gemüse zu züchten. Sie bo¬
ten ihm konkret ein kleines Objekt an und Alice Penkala be¬
merkte:
Wenn Sie meine Ansicht haben wollen: falls Sie nicht sehr vie¬
le Schüler haben derzeit, kommen Sie her! Sie haben in einem
Monat die Reisespesen durch die niedrigere Miete eingebracht.
Leider fehlen die folgenden Briefe. Inzwischen hatte sich Martin
Flinker aber offensichtlich doch zum Bleiben in der Hauptstadt
und Rückkehr ins angestammte Metier entschlossen. Mit ge¬
liehenem Geld kaufte er ein Lokal und eröffnete 1947 eine Buch¬
handlung. Wieder entstand ein Treffpunkt für Autoren, Germa¬
nisten, Übersetzer, französische und deutschsprachige Intel¬
lektuelle.