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Rezensionen Friedmann, Gutmann, Lieben, Mandl, Strakosch Die Erforschung der politischen Entwicklung in der Zwischenkriegszeit 1918-38 und der Zeit danach hat die Beschäftigung mit der Sozialund Wirtschaftsgeschichte Österreichs lang in den Hintergrund gedrängt. Was durch Arthur Schnitzler und Stefan Zweig über die Bedeutung des jüdischen Bildungsbürgertums für das gesellschaftliche Leben, für Kultur und Kunstförderung bekannt ist, weckt das Interesse für die Forschungsarbeit der Historikerin MarieTheres Arnbom und ihre Darstellung des Wirkens von fünf Wiener Industriellenfamilien. Durch humanitäres Engagement, Stiftungen, Beiträge zur Wissenschaft und Politik, ergaben sich Kontakte auch zu nicht-jüdischen Familien und zur österreichischen Aristokratie. Wohltätigkeitsorganisationen und Krankenhäuser wurden gegründet, erstmals weltliche Krankenschwestern ausgebildet. Vorbildliche soziale Einrichtungen gab es auch in den Fabriken selbst, Werkspitäler, Krankenversicherungen. So begannen gesellschaftliche Schranken sich zu verringern oder lösten sich auf. Als Mäzene und Förderer bedeutender Architekten und Künstler errichteten Vertreter des Großbürgertums eine Vielzahl heute berühmter Bauten und privater Kunstsammlungen. Es gab Schenkungen an Museen, Preisverleihungen. All dies ging Hand in Hand mit zunehmender Assimilierung, die in späteren Generationen das Wissen um jüdische Wurzeln nicht selten verdrängte. Nur fünf von nahezu 1.000 Familien werden hier vorgestellt. Sie kamen aus verstreuten jüdischen Gemeinden der Monarchie, aus Böhmen, Mähren und Ungarn nach Wien. Der Weg der Familie Mandl wird ab 1796 beschrieben. Unter den Gründern der Hirtenberger Metallwaren-, Munitions-, und Flugzeugfabriken befanden sich Ärzte, Filmemacher, Politiker. Zu Kohlenbaronen und Mäzenen entwickelte sich die mährische Rabbinerfamilie Gutmann, die in Wien einen sagenhaften Aufstieg, Adel, und durch Heirat sogar allerhöchste Würden erreichte. Für Arbeiter wurden Musterkolonien gegründet, moderne Wohnbauten mit Wasserleitung, Kanalisation, Schulen, Bibliotheken, Kirchen. Es gab Unfall- und Pensionsversicherung, ausdrücklich für Angehörige aller Konfessionen. Seit Generationen Tuchfabrikanten in Brünn, schlugen die künstlerisch hochbegabten Mitglieder der Familie Strakosch ganz andere Wege ein. Als Schauspieler, Operndirektoren, Komponisten, Klaviervirtuosen, feierten sie Erfolge in Europa und Übersee, während ihr Brünner Werk wertvolle Stoffe in alle Welt lieferte. Zuckerindustrie, stidafrikanische Goldminen und europäische Finanzpolitik führten sogar in England zu Adelstiteln. Die Familie Friedmann aus 74 Ungarn leistete auf dem Theater, aber auch in Technik und Politik einen wichtigen Beitrag zur österreichischen Geschichte. Sie brachte Erfinder und Hersteller technischer Maschinenteile hervor, ihre Fabriken überzogen den Kontinent. Max Friedmanns Dampfauto kann heute noch im Technischen Museum bewundert werden. Mit Großhandel, Banken, Börse, aber auch mit naturwissenschaftlichen Leistungen wie der Erfindung der „Lieben-Röhre“, nicht zuletzt mit legendärer Wiener Salonkultur, ging der Name der Familie Lieben in die Wiener Geschichte ein. Der Ausbau der Ringstraße, Musikverein, Konzerthaus, Sezession, alles Symbole der Geisteshaltung des österreichischen Liberalismus und der Hochkultur des Fin de siecle, bleibt mit diesen wie mit vielen anderen jüdischen Familien untrennbar verbunden. Umso unfaßbarer der Antisemitismus und der Verlauf der dreißiger Jahre samt allem, was folgte. Daß uns Heutigen die selbstverständlich gewordenen Fortschritte des sozialen Lebens, der Wissenschaften, aber auch die Entstehungsgeschichten vieler großer Bauten und Kunstwerke, die der Spaziergänger naiv bestaunt, wieder bewußt werden kann, ist das Verdienst der engagierten Historikerin MarieTheres Arnbom. Mit dieser reichhaltigen Dokumentation wird dem Gedächtnis der Österreicher eine Stütze geboten. Unverzichtbar! Rosemarie Schulak Marie-Theres Arnbom: Friedmann, Gutmann, Lieben, Mandl, Strakosch. Fünf Familienporträts aus Wien vor 1938. (Mit Bildern und Literaturverzeichnis.) Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2002. 248 S. Euro 29,90 Krankheitsherd oder MärchenSchtetl Martin Beradt blickt auf beide Seiten einer Straße Das Stuwerviertel ist anders‘, so überschreibt Cecile Cordon ihre Liebeserklärung an dieses Wiener Viertel, jenes „Tor zum Paradies“ vieler Juden, die aus Galizien und der Bukowina nach Wien kamen. Für das entsprechende Pendant in Berlin, das „Scheunenviertel“, gilt — besser gesagt galt — das auch, aber mit dem entscheidenden Unterschied, daß dort niemand bleiben mochte. Die Menschen, die aus Polen, Litauen oder Rumänien kamen, waren unterwegs zu einem anderen Paradies, nach Palästina oder Amerika. Das elende Viertel, gleich hinter dem Berliner Alexanderplatz, ein „Stückchen“ vor der Einfahrt in den erträumten Garten Eden gelegen, sollte als Transit, als obligate Zwischenstation, dienen, bis das Geld für die Schiffspassage erspart war. Eike Geisel wies auf die Funktion des Scheunenviertels als „Wartestation auf einer Wanderschaft ins Unbekannte“ hin. Um 1700 errichteten die Berliner am damaligen Stadtrand Vorratsgelasse in großen Scheunen. In späteren Jahren diente dieses „Scheunenviertel“ als billige Unterkunft, das, da immer mehr in die Stadtmitte gerückt, ab 1906 abgerissen wurde. Der so entstandene freie Platz, von der Freien Volksbühne als Fels in der Brandung dominiert und ringsumher durch Mietshäuser mit tiefen Hinterhöfen bebaut, wechselte mehrfach seinen Namen: Zuerst Babelsberger-, dann Bülowplatz, später benannten ihn die Nazis nach ihrem „Märtyrer“ in Horst-Wessel-Platz um, und heute steht er für Rosa Luxemburg. Die einstigen Bewohner siedelten in die verfallenen Häuser der umliegenden Straßen, Grenadier- (heute Almstadtstraße), Dragoner- (heute Max-BeerStraße), Rücker-, Linien-, Mulackstraße, Hirtengasse (heute Hirtenstraße) und Schendelgasse, über. Das ostjüdische Ghetto nahe dem Alexanderplatz entstand. Der jüdische Schriftsteller und Rechtsanwalt Martin Beradt, 1881 in Magdeburg geboren und aufgewachsen in Berlin, begann bereits um 1912 mit ersten Aufzeichnungen zu der jüdischen Gasse, die im Roman keinen Namen hat, mit der jedoch die Grenadierstraße und die dort Gestrandeten gemeint sind. Facettenreich, auch mit seinen abstoßenden Zügen hat er das bedrängte und von seltener Eigenart geprägte Leben seiner Glaubensgenossen aus Osteuropa geschildert. Es ist Beradts letzter Roman, den er eigentlich als „Beide Seiten einer Straße“ veröffentlichen wollte. Abgeschlossen 1939, erschien das Werk erst 1965, sechzehn Jahre nach seinem Tod im November 1949 in New York, unter dem Titel „Die Straße der kleinen Ewigkeit“. Beradt stellte das Werk unter das Motto: „Vom Morgen bis zum Abend kann die Welt zerstört werden.“ Es handelt sich um eine Chronik der Ausgestoßenen und Wartenden, die mit dem Eintreffen von Ephraim Feingold, genannt Frajim, aus der polnischen Provinz ihren Anfang nimmt und mit dessen Rückkehr nach Polen endet. Neben Frajim wimmelt es von vielen kleinen Helden, die mit großen Vorstellungen auf der ärmlichen Stelle treten. Händler und Hausierer, Huren und Bettler, aber auch Ärzte, Rabbiner, Fromme und weniger Fromme. Sie bilden eine streitbare Lebensgemeinschaft, die ihre Straße als Zwischenstation, mit ihren Illusionen und Desillusionierungen, akzeptiert hat. Der Roman entwickelt sich aus vielen kleinen Episoden, die zu teilweise skurrilen und verschrobenen Geschichten aufgetürmt werden. Joels Gasthaus und das Haus des Lumpensammlers Lewkowitz sind neben der Straße selbst die Hauptschauplätze des Geschehens, wo liberales und orthodoxes Judentum die Szenerie beherrschen. Die Handlung endet mit einem Tohuwabohu aufgrund eines Gerüchts über einen polizeilichen Räumungbefehl für die verkommenen und verwohnten Anwesen von Lewkowitz und Joel. Der Anfang vom Ende „der TriumphstraBe der Ostjuden“ scheint eingelautet, die Empörung ist groß, doch das Gerücht bleibt Gerücht. Frajim, dessen Eltern ihn zwar zum