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großen Mann bestimmt haben, gibt auf und kehrt schmachbeladen nach Polen zurück. Die Gebliebenen bekamen, wie Beradt im Epilog festhält, eine Art Schonfrist bis zu jenem 29. Oktober 1938, als man 28.000 polnische Juden aus ganz Deutschland über die Grenze abschob (bzw. ins Niemandsland zwischen den Grenzposten). Beradt blickt zurück auf den 9. November 1938, auf die Zerstörung der jüdischen Geschäfte, die Deportation der Juden in die Todeslager und den damit einhergehenden Zusammenbruch der Gasse. Beradt selbst verließ Deutschland erst am 13. Juli 1939 zusammen mit seiner Frau Charlotte. Wenige Tage zuvor besuchte er die Gasse nochmals, ohne sie wiederzuerkennen, denn da war die Grenadierstraße bereits „judenrein“. Wer mehr über Beradt in Erfahrung bringen möchte, sollte die umfassende Monographie von Kirsten Steffen mit dem Titel ,,,Haben sie mich gehasst?’ Antworten fiir Martin Beradt (1881 — 1949)‘ zur Hand nehmen. Sie basiert auf bisher unzugänglichen Dokumenten, allerdings auch mit dem Risiko, in der Fülle des Materials zu ertrinken. Mit abgedruckt ist die Erstveröffentlichung eines fünfseitigen autobiographischen Textes Beradts, den Steffen — aus welchem Grund auch immer - als Erzählung einstuft. Gleichwohl ist Steffen eine insgesamt fulminante Arbeit gelungen, die nicht nur mit Fehlern und Irrtümern aufräumt, sondern auch überzeugend in ihrer literaturhistorischen Einordnung ist und damit den Boden für einen notwendigen und wünschenswerten Rezeptionsschub der Werke Beradts bereitet hat. Wie prohibitiv deutsche und amerikanische Verlage mit dem Autor Martin Beradt umgingen, zeigt sich besonders an „Die Straße der kleinen Ewigkeit“. Weder in den USA noch in Deutschland wollten sich die Verlage (so u.a. Jewish Publication Society, Rowohlt, Claassen) nach dem Krieg mit einem Buch über das proletarische Judentum exponieren. Nach dem Holocaust sollten nur erlesene Juden porträtiert werden. Die Krönung der Ausflüchte gelang Franz Schonauer vom Claassen Verlag, der am 30. April 1958 an Charlotte Beradt schrieb: „Hätten wir den Antisemitismus von 1933 bis 1945 nicht in der scheußlichen und unmenschlichen Form gehabt, würde ich keinen Augenblick zögern, diesen Roman zu bringen. Ich glaube aber, daß man dem versteckten Antisemitismus, der immer noch vorhanden und aktiv ist, nur neue Nahrung geben würde, wenn man diesen Roman publizierte. Er würde wahrscheinlich mißverstanden und als typisch jidisch [!] abgelehnt werden.“ Selbiger Schonauer sagte übrigens 1961 im Vorwort zu seinem Werk „Deutsche Literatur im Dritten Reich“, daß „eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erst dann möglich ist, wenn falsche Bilder die Wirklichkeit nicht mehr verdecken.“ Ein Mann, der sich widerspricht, meinte der G.W.F. Hegel, ist darum noch kein Dialektiker. Erst 1965 wurde dieser Teufelskreis durchbrochen, als sich Heinrich Scheffler des Manuskripts annahm. Die Resonanz blieb leider dürftig. Auch 1993, als der Berliner Verleger Joachim Mackensen den Roman unter Beradts ursprünglich vorgesehenem Titel „Beide Seiten einer Straße‘ herausbrachte, hielt sich die Aufmerksamkeit in Grenzen. Hans Magnus Enzensberger hat nun einen verdienstvollen dritten Anlauf unternommen und das Werk in die von ihm herausgegebene „Andere Bibliothek“ eingestellt. Wer sich auf die Spuren Beradts in Berlin begeben möchte, sollte Beate Margarete Lehners schön und reizvoll bestückte literarische Miniatur „In zerbrechlichsten Gewanden ...’ Martin Beradt. Jurist und Dichter in Berlin“, aus der Reihe der ,,Frankfurter Buntbiicher* der Kleist-Gedenk- und Forschungsstätte in Frankfurt an der Oder, bei sich haben. Doch aufgepaßt: Wer sich als Tourist oder Suchender in Beradts Gasse begibt, wird nicht nur feststellen, daß die Grenadierstraße 1951 von der DDR-Regierung nach dem kommunistischen Widerstandskämpfer Bernhard Almstadt umbenannt wurde. Der Mythos vom jüdischen Schtetl inmitten der Stadt verschwand nicht nur mit seinen Bewohnern unter der Naziherrschaft. In den 1980er Jahren wurde hier „Ordnung geschaffen“, Fassaden wurden geglättet und Lükken mit Plattenbauten gefüllt. Der Rest wurde nach der Wiedervereinigung Deutschlands wegsaniert. Passanten sind rar und geschäftliches Treiben passe. Die Geschichte — die ostjüdische - der Straße ist verschwunden, wen es danach verlangt, der muß zu Büchern greifen, um zu sehen, wie alles einmal wirklich war. Die Straße selbst, einstmals ein kleines Schtetl, wurde zum Schweigen gebracht. Hans Jörgen Gerlach Martin Beradt: Die Straße der kleinen Ewigkeit. Roman. Mit einem Essay und einem Nachruf von Eike Geisel. Frankfurt/M.: Eichborn Verlag 2000. (Die Andere Bibliothek, Bd. 190). 370 5. Euro 24,90 Kirsten Steffen: „Haben Sie mich gehasst?“ Antworten auf Martin Beradt (1881-1949). Schriftsteller, Rechtsanwalt, Berliner jüdischen Glaubens. Mit Abdruck einer unveröffentlichten Erzählung sowie einer umfassenden Bibliographie. Oldenburg: Igel Verlag 1999. (Reihe Literatur- und Medienwissenschaft, Bd. 70). 477 S. Euro 64,Beate Margarete Lehner: „In zerbrechlichsten Gewanden ... “ Martin Beradt. Jurist und Dichter in Berlin. Frankfurt/O.: Kleist-Gedenkund Forschungsstätte 2000. (Frankfurter Buntbücher 28). 16 S. Euro 4,— Tausende jüdische Bewohner der Bukowina waren in den Zwangsarbeitslagern von Transnistrien jenseits des Dnjestr der Willkür der Bewacher ausgesetzt. Das Aufsichtspersonal dieser Lager bestand aus SS, Polizei und Aufsehern deutscher, litauischer und ukrainischer Nationalität. Arnold Daghani, zusammen mit seiner Frau Häftling im Arbeitslager Michajlowka, hat penibel Tagebuch geführt und Tag für Tag die Greuel, die an den Gefangenen verübt wurden, notiert. Die jüdischen Häftlinge war der totalen Willkür ihrer Aufseher ausgeliefert, die die Macht hatten, jederzeit Menschen zu selektieren und zu erschießen. So wurden z.B. 109 ukrainische Juden erschossen und in einem Massengrab verschartt, da im Lager Michajlowka Platzmangel herrschte. Unter diesen Opfern waren vor allem Frauen, Kinder, Kranke und alte Menschen. Eine Liste der Ermordeten im Anhang des Buches konfrontiert den Leser mit Namen und enthebt die Opfer somit der Anonymität. Viele Menschen starben auch am Hunger und Epidemien. Arnold Daghani, ursprünglich Arnold Korn, war Maler. Unter den widrigsten Umständen ist es ihm gelungen, in kleinen Skizzen auch Bilddokumente dieser Zeit des Schreckens zu schaffen und in die Freiheit hinüberzuretten. Sein Tagebuch hat er in englischer Stenografie verfaßt, da er sonst bei Entdeckung seiner Auf75