durch Nazikugeln keine geschichtliche Statur hat verleihen kön¬
nen, machte sich zum halbgemütlichen Diktator. Ein jesuitischer
Intellektueller, Kurt von Schuschnigg, [... ] ohne Haltung folg¬
te ihm. In Österreich wurde der deutsche Faschismus nachge¬
spielt: Despotie gemildert durch Schlamperei; es gab eine SA,
die „Heimwehr“ hieß, es bestand so etwas wie Dachau, das sich
im niederösterreichischen Wöllersdorf befand. [...] Unsere
Faschisten waren Amateure der Bestialität.
So jedenfalls läßt es sich an. Hans Mayer meint angesichts
Hitlers in Österreich ‚überwintern’ zu können, sieht sich „als
Einsiedler im Gebirg, als Bauernknecht im Marchfeld“.
DIE BRVECKE.
a ALLS
KRITIZCHE BELTRAECGE.
Das soll sich am Tag des „Anschlusses“, am 11. März 1938 än¬
dern. Ein großer Teil der Bevölkerung begrüßt die Annektierung
an das Reich enthusiastisch, ein Enthusiasmus, der sich in hef¬
tigen antisemitischen Unruhen ausdrückt. Göring wird am 15.
März als Leiter der österreichischen Wirtschaft eingesetzt,
Himmler am 18. März ermächtigt, jüdisches Eigentum zu be¬
schlagnahmen. 444 jüdische Organisationen in Wien und 181
in den Provinzen müssen ihre Tätigkeit einstellen. Juden wer¬
den aus ihren Stellungen in Theatern, Gemeindezentren, öf¬
fentlichen Bibliotheken, Universitäten und Schulen entlassen.
Am 1. April und 15. Mai werden 110 Persönlichkeiten des öf¬
fentlichen Lebens nach Dachau deportiert. Im Herbst dann be¬
stimmt Eichmann, wer emigrieren kann, wer nicht. Am Tag, an
dem Hitler Österreich überrollte, erinnert sich Jean Amery „der
vollausgereiften Apokalypse, das Volk (feierte) ein durch Wochen
dauerndes Fest der Deutschheit“.
Jetzt trägt auch er sich mit dem Gedanken an Auswanderung.
Paß, Visum, Affidavit -— woher nehmen, ohne Geld, ohne Be¬
ziehungen, ohne Fremdsprachen? Ein Schulfreund taucht auf,
stolz auf seine Machtstellung im Sippenamt — er macht ihm ein
Angebot: „Du bist nicht jüdischen Glaubensbekenntnisses, [...]
es gibt eine arische Linie in Deiner Familie. Ich könnte da ein¬
greifen“, lockt er. Dem Angebot folgen die Bedingungen: Er¬
stens, Scheidung von seiner jüdischen Frau. Zweitens, seine
Mutter muß eine eidesstaatliche Erklärung abgeben, daß er, Hans,
nicht der Sohn des jüdischen Vaters sei, sondern „Frucht eines
Ehebruchs mit einem Arier“. Das Angebot wird ausgeschlagen.
Also doch den legalen Weg versuchen, nach tagelangem Schlan¬
gestehen erweist auch er sich als aussichtslos. Wie diesem „zum
Schlachtplatz gewordenen Vaterland“ entrinnen?
Der Titel seines ungedruck¬
ten, in allen Manuskriptko¬
pien jetzt verlorenen Romans
Die Schiffbriichigen beglei¬
tete ihn. Die Rolle [...] war
ihm auf den Leib und in die |
Seele geschrieben.
Sie reisen ab, er und sei¬
ne junge Frau, ohne Vorbe¬
reitung, ohne Geld, gewapp¬
net einzig mit ungültigen
österreichischen Identitäts¬
karten. Im überfüllten Zug
trifft er einen beschlageneren
Leidensgenossen, der ihm
rät in der Kölner - nomen est
omen auch hier — Brüsseler
Straße abzusteigen, dort
würde er eine jüdische Frau
namens Schmengler finden,
die Verbindungen hätte zu
Grenzgängern. Während der Durchreise macht er Bekanntschaft
mit dem NS-Alltag in Deutschland, wundert sich über seine
schon dort „ankernde Wirklichkeit‘, über seine Normalität, hat
er doch noch das vor Glück taumelnde Österreich vor Augen.
Keine Spur von Brechts „bleicher Mutter Deutschland“, die un¬
ter dem Joch des Diktators ächzt, — nichts als Einverständnis.
Wunder geschehen: Ein Unbekannter nimmt sich seines
Fluchtwegs an, fordert 400 Reichsmark, die zurückgebliebene
Familie schickt das Schmuggel-Geld, der Unbekannte tut, was
er versprochen hat. Trotz mangelnder Papiere und entgegen al¬
ler Vorschriften, wird das Paar über den Grenzort Kalterherberg
— der Name ist bedeutungsträchtig genug — von einem Kölner
Menschenschmuggler nach Belgien eingeschleust. Dies also ist
der Anfang der Emigration.
Er landet in Antwerpen, einer von 50.000 Juden: „Ich war kein
Schriftsteller, kein Intellektueller, ich hatte keinen Namen, kei¬
ne Herkunft und ganz gewiß keine Zukunft.“ Das einheimische
jüdische Hilfskomitee nimmt sich seiner an:
Diese jüdische Kolonie, in der es sehr reiche Diamantaire gab,
aber auch allerärmste Kleinhändler mit Altwaren, war von ei¬
ner fast unglaublichen und ganz unerschöpflichen Generosität“,
schreibt Amery 1969. Er bewundert vor allem die großzügige
Haltung der Ostjuden, die sich im Gegensatz zu den deutschen
und österreichischen Juden mit den neuen Einwanderern soli¬
darisieren. Er selbst spielt immer noch den Schriftsteller, wohl¬
wissend, daß er ihn spielt.
Er hielt in einem vom jüdischen Hilfskomitee zur Verfügung
gestellten Raum Lehrkurse, die er mehr spaßhaft als großspre¬
cherisch „Seminar für Geistesgeschichte“ nannte. Nach seinen
Vorträgen über die deutsche Romantik, über den Neo-Positivis¬
mus, über den realistschen Roman, ging einer seiner Hörer [...]
für ihn einsammeln: 50 belgische Centimes, das war sein Tarif.
Die Ware, die er anzubieten hatte, war [... ] nicht sehr gefragt.
Freundschaften werden geknüpft mit alten und neuen
Freunden, die sich auch nach Antwerpen geflüchtet haben: Maria
Eschenauer-Leitner z.B., Jean Amerys zweite Frau, die 1936
in Wien den Österreicher Rudolph Leitner geheiratet hatte, spä¬
ter einer Freundin von Hans Mayers erster Frau Regina (Gina),