OCR Output

zufangen mit einer Philosophie des Nichts, denn, was immer
Rauschning unter dem nationalsozialistischen ,,Nihilismus“ ver¬
standen haben mochte, heute ist einsichtig, daß im Sinne Herbert
Marcuses dieses Reich der Triumph des positiven Denkens und
Handelns war. In einem so ganz und gar auf Raserei der Sach¬
lichkeit hinsteuernden Staatsverband war kein Staat zu machen
mit dem Nichts und der Nichtung. Ebenso klar ist, daß Heideg¬
ger, nachdem der erste Rausch kleinbürgerlicher Ressentiment¬
verbundenheit mit den als Meßkircher mißverstandenen Nazis
verflogen war, seinerseits sich unbehaust fühlen mußte inmit¬
ten der Welt der Sachwalter, denen es ja nun wahrhaftig in
Ausschließlichkeit um das „Seiende“ ging — und mochte es das
Seiende des Genozids gewesen sein! — die aber keinen Pfifferling
geben wollten für das Sein und das Nichts. Zwei miteinander
inkompatible Anti-Humanismen stießen da zusammen: der mör¬
derische des Nationalsozialismus und der in letzter Analyse
selbstmörderische des Magus aus dem Alemannenland. Das
Nachsehen hatte in jedem Falle der Mensch, der erst wieder bei
dem Heidegger-Nachfahren und Heidegger-Überwinder Jean¬
Paul Sartre in seinem vollen Entfaltungsanspruch uns anredet.

Martin Heidegger hatte nach anfänglichen, sehr moderier¬
ten Schwierigkeiten mit den französischen Besatzungsbehörden

nach dem Kriege sehr bald seine Arbeit wieder aufnehmen kön¬
nen: seltsamerweise war die Faszination, die er ausübte, eine
noch suggestivere als vor seinen Abirrungen auf die Holzwege
des Nazismus. Er erntete, wenn diese unheimliche Metapher er¬
laubt ist, die blutigen Früchte des Krieges: die Angst und das
Nichts waren, wenn auch nicht im Heidegger’schen Sinne, von
zahllosen seiner Zeitgenossen erlebt worden. In seinem Wort¬
zauber verfing sich manches beschädigte Leben. Es fehlte natür¬
lich nicht an Angriffen, aber, alles in allem, wuchs Heideggers
Ansehen, stieg sein Ruhm. Dennoch möchte ich glauben, daß
das letztgültige Urteil der Geschichte über Heidegger, sofern
das, was uns jetzt in die Zukunft treibt, wirklich Menschheits¬
geschichte, Menschlichkeitsgeschichte werden sollte, kein gün¬
stiges sein wird. Denn dieser Denker hat in all seiner Größe und
Tiefe versagt: als Mensch, als Staatsbürger, als der das Bewußt¬
sein seiner Zeitgenossen bildende Philosoph. Das ist oft genug
ausgesprochen worden. Die Verpflichtung, es immer wieder zu
sagen, in voller Deutlichkeit, bleibt weiter bestehen.

Vorabdruck aus: Jean Améry Werke Bd. 6. Stuttgart: Klett-Cotta
2004.

Fiir die meisten der Fliichtlinge aus faschistisch oder nationalsozia¬
listisch beherrschten Ländern war Belgien Transitland oder nur vor¬
übergehende Zuflucht. Nach Angaben der belgischen Regierung bei
der Konferenz von Evian im Juli 1938 hielten sich am 30.6. 1938 den¬
noch 2.000 deutsche, 800 österreichische, 250 italienische, 120 spa¬
nische und 80 staatenlose Flüchtlinge und 3.000 spanische Kinder im
Land auf. Ende 1938 wurde die Zahl der unterstützungsbedürftigen
Hitler-Flüchtlinge bereits mit 5.000 angegeben. In ökonomischer und
sozialer Hinsicht soll es den Hitler-Flüchtlingen aus Deutschland und
Österreich bessser gegangen sein als in vielen anderen Ländern, da
sie nicht von vornherein aus dem Erwerbsleben ausgeschlossen wa¬
ren. Wegen der Visumspflicht kamen die Flüchtlinge meist illegal über
die ‚grüne’ Grenze, mußten darum oft Arreststrafen absitzen und blie¬
ben ohne ständige Aufenthaltsbewilligung von Abschiebung bedroht.
Neben Brüssel war die Hafenstadt Antwerpen ein Zentrum der Emi¬
gration, wo eine große jüdische Gemeinde bestand und der Sozialist
Camille Huysmans, seit 1933 Bürgermeister der Stadt, die Exilanten
schützte. In Belgien, schreibt Stefan Keller, „schien es keine Rolle zu
spielen, ob jemand Jude war oder nicht.“ (S. 22)

Beim Überfall der deutschen Wehrmacht wurde am 10. Mai 1940
ein Großteil der Hitler-Flüchtlinge interniert und nach Frankreich ge¬
bracht; ein kleinerer Teil von ihnen konnte später wieder nach Belgien
zurückkehren. Nach der belgischen Kapitulation am 28. Mai 1940
machten sich die deutschen Militärbehörden die Tatsache zunutze, daß
nur etwa ein Zehntel der in Belgien lebenden Juden auch die belgi¬
sche Staatsbürgerschaft besaß, und wiesen 8.000 Personen ins besetzte
Frankreich aus. Ende 1940 lebten noch etwa 52.000 Juden in Belgien;
etwa 40.000 waren geflohen oder in Frankreich.

Im Oktober 1940 wurde die Meldepflicht für Juden eingeführt; im
Frühjahr 1941 mußten ausländische Juden die Großstädte verlassen,
durften aber Ende 1941 wieder zurückkehren. Im Mai 1942 wurde das
Tragen des Judensterns dekretiert — da die belgischen Zivilbehörden
teilweise die Mitarbeit verweigerten, übernahm ein von der Gestapo
eingesetzter Judenrat die Verteilung. Im August 1942 ging der erste
Transport von Malines nach Auschwitz. Man hielt sich auch hierbei
zunächst an die ‚Ausländer’. Im September 1943 wurden dann belgi¬
sche Juden und ‚Zigeuner’ deportiert. Von den insgesamt 25.257 aus
rassistischen Gründen Deportierten erlebten 1.207 den 8. Mai 1945.

56

Beachtlich ist die Zahl derer, die in Verstecken oder mit falschen
Papieren in Belgien überlebt haben. Wiederholt klagten die deutschen
Militärbehörden über das Unverständnis der Belgier für die „Juden¬
frage“. Trotzdem ist die belgische Kollaboration, vor allem die der
flämischen Nazipartei, „Deutsch Vlaamse Arbeid Gemeenschap“
(Deutsch-Flämische Arbeitsgemeinschaft), bis heute in Belgien ein
heiß umstrittenes Thema.

Die im Rahmen der belgischen Resistance selbständig tätige öster¬
reichisch-kommunistische Widerstandsgruppe konzentrierte sich
auf „Wehrkraftzersetzung“, auf Propaganda unter den Soldaten der
Besatzungsstreitkäfte, besonders den Österreichern unter ihnen. Eine
spezielle Methode war die den jungen Kommunistinnen vorbehalte¬
ne „Mädelarbeit“, die Kontakte mit den Soldaten anbahnten, um ,,ih¬
nen die Sinnlosigkeit des Krieges klarzumachen“. Sie bereiteten da¬
durch eine Reihe von Desertionen vor. Die Opfer der bis zu 50
Mitglieder und Sympathisanten umfassenden Gruppe waren be¬
trächtlich. Nach der Vertreibung der Nazis bildete sich eine überpar¬
teiliche „Österreichische Freiheitsfront“ (ÖFF), die im September 1944
bereits 750 Mitglieder hatte. Die ÖFF wurde vor allem karitativ tätig.

Eine Reihe österreichischer Autorinnen fand vorübergehend Zu¬
flucht in Belgien, so Julius Braunthal (1935-36), Otto Maria Carpeaux
(1938/39), Salamon Dembitzer (1935-40), Hans Eichner (1938/39),
Joseph Peter Fabry (1938/39), Joseph Hahn (1939 Flucht über Belgien
nach Großbritannien), Raoul Ernst Weiß (1938/39). Von den in Belgien
Gebliebenen überlebten Jean Amery, Armin Freudmann und Herta
Fuchs-Ligeti die nationalsozialistischen Konzentrationslager, in de¬
nen Oswald Levett, Ernst Schafer und Adolf Unger ermordet wurden.
Das gleiche Schicksal erlitt Jetty Sontag, die Mutter Claire Felsen¬
burgs, der Autorin von „Flüchtlingskinder“ (Wien 2002).

Literatur: Willi Berler: Durch die Hölle. Aufgezeichnet und historisch kom¬
mentiert von Ruth Fivaz-Silbermann. Augsburg 2003. - Stefan Keller: Die
Rückkehr. Joseph Springs Geschichte. Zürich 2003. — Ursula Langkau-Alex:
Belgien. In: C.D. Krohn, P. von zur Mühlen, G. Paul, L. Winckler (Hg.): Hand¬
buch der deutschsprachigen Exilforschung 1933-1945. Darmstadt 1998, Sp.
168-174. - Österreicher im Exil. Belgien 1938-1945. Eine Dokumentation.
Hg. vom DÖW. Bearbeitet von Gundl Herrnstadt-Steinmetz und Ulrich
Weinzierl. Wien 1986. — Vladimir Vertlib: „Vergangenheitsbewältigung“ auf
belgisch. In: MdZ Nr. 1/1999, 34f.