„Auf den Heidegger gekommen“ — lautet das Fazit über Glucks¬
mann und die nouveaux philosophes. Améry wubte, was das be¬
deutete. Am umfangreichsten hat er sich mit Heidegger in der
Rundfunk-Arbeit „Sie blieben in Deutschland“ von 1968 aus¬
einandergesetzt, die den Zusammenhang zwischen Heideggers
Verhalten im Nationalsozialismus und Heideggers Position in
der Philosophiegeschichte herstellt, ohne darum den Philosophen
einfach mit dem Regime zu identifizieren. Amery weiß, wodurch
Heidegger über die bloße Propaganda hinausgegangen ist - und
sieht gerade darin die Gefahr, die von ihm immer noch ausge¬
he: „gerade weil er existentielle Probleme aufwarf und also den
Menschen in seiner Totalität ansprach und nicht nur ein logisch
trainiertes Gehirn“, ist Heidegger „einer der Hauptverantwort¬
lichen für die Sozialblindheit der akademischen Jugend
Deutschlands. Seine radikale Hinwendung zum Sein, in das wir
in unserer Existenz ‚hinausstehen‘, ist die herrische Verleugnung
erfahrener, sozial zu gestaltender Realität. [...] Neben der un¬
ableugbaren und durch keine nachträglichen Interpretationen
aus der Welt zu schaffenden Tatsache, daß Heideggers Irratio¬
nalismus, daß seine ‚große Weigerung‘ gegenüber humaner, das
bedeutet für die unmittelbare Prä-Naziepoche: demokratischer
Forderung des Tages die geistige Grundstimmung für die Macht¬
ergreifung durch die Antihumanität vorbereitet hat, wird die po¬
puläre Frage ‚War ich ein Nazi‘ fast unbeträchtlich.“
Die radikale Hinwendung zum Sein, wie sie Heidegger denkt,
läßt die existentielle Erfahrung nicht mehr als Erfahrung eines
Gesellschaftlichen zu. Was an individuell Vermitteltem zur
Sprache gebracht werden mag, es geht in der Hinwendung zum
Sein auf — aber dieses Sein war immer schon, mit Hegels Logik
gedacht, nur ein anderes Wort für das Nichts. Und das „Sein zum
Tode“ meint darum nicht einfach das Sein des einzelnen Indi¬
viduums, wenn es auch von dessen Befindlichkeit ausgeht, es
sieht dieses Dasein vielmehr immer schon aufgehoben im
„Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes‘ - also in der Bereit¬
schaft zum Opfer: „Das Opfer ist der Abschied vom Seienden
auf dem Gang zur Wahrung der Gunst des Seins.“
Ame£ry jedoch liest Heidegger an dieser Stelle mit den Kate¬
gorien Sartres: das Sein versteht er als das des unaufhebbar ein¬
zelnen, vereinzelten Individuums. Im Zusammenhang mit dem
Heideggerschüler Günther Anders hat Amery diese Umdeutung
des Seinsbegriffs expliziert: „daß nur vom Menschen her und
auf den Menschen wieder rückbezogen der Seinsbegriff einen
guten Sinn hat“ — und mit einemmal läßt sich die Ontologie des
Todes als humanistische Philosophie des Todessehnsüchtigen
deuten: Heidegger habe „aufs suggestivste dargelegt, wie das
wirkliche Leben ein Leben zum Tode ist. Vom ‚Vorlaufen‘ in
den Tod hat er gesprochen, vom todesverhafteten Menschen,
dem das Seiende gleichgültig wird, da er sich doch schon zur
Heimkehr ins Sein entschlossen hat. Ihm ist der neue Begriff
der Existenz zu danken, der uns den Menschen erhellt, wie er
sich in die Zukunft entwirft. Und er hat den großartigen, wenn
natürlich auch logisch anfechtbaren und am Ende von der Psy¬
chologie, die Heidegger verachtet, doch noch einholbaren Satz
gesagt: ‚Die Angst offenbart das Nichts.‘ Ohne Heidegger hät¬
te es keinen Sartre gegeben, keinen Marcuse [...]“ Im todes¬
verhafteten Menschen, dem das Seiende gleichgültig wird, da
er sich doch schon zur Heimkehr ins Sein entschlossen hat, er¬
kennt Amery nun nicht mehr die herrische Verleugnung erfah¬
rener, sozial zu gestaltender Realität, also die Bereitschaft zum
Opfer, die zuvor noch als der Schlüssel galt für die Beziehung
Heideggers zum Nationalsozialismus. Umgekehrt sieht Amery
den Nationalsozialismus als einen „so ganz und gar auf Raserei
der Sachlichkeit hinsteuernden Staatsverband“ an, in dem mit
dem Nichts und der Nichtung kein Staat zu machen wäre und
worin darum der Philosoph des Seins zum Tode sich „unbehaust
fühlen mußte inmitten der Welt der Sachwalter, denen es ja nun
wahrhaftig in Ausschließlichkeit um das ‚Seiende‘ ging — und
mochte es das Seiende des Genozids gewesen sein! — die aber
keinen Pfifferling geben wollten für das Sein und das Nichts.“
Der „Genozid“ ist aber kein „‚Seiendes“, sondern dessen Gegen¬
teil: bloße Vernichtung, so wie jene Raserei der Sachlichkeit von
Anfang an auf totalen Krieg und Massenmord ausgerichtet war.
Da er jedoch Heidegger nicht einfach mit dem Nationalso¬
zialismus identifiziert, kann Améry die Nachkriegswirkung sei¬
ner Philosophie wiederum schärfer erkennen als die üblichen
philosophiegeschichtlichen Darstellungen: „seltsamerweise
war die Faszination, die er ausübte, eine noch suggestivere als
vor seinen Abirrungen auf die Holzwege des Nazismus. Er ern¬
tete, wenn diese unheimliche Metapher erlaubt ist, die blutigen
Früchte des Krieges: die Angst und das Nichts waren, wenn auch
nicht im Heidegger’schen Sinne, von zahllosen seiner Zeit¬
genossen erlebt worden. In seinem Wortzauber verfing sich man¬
ches beschädigte Leben.“ Kaum jemals wurde so offen ausge¬
sprochen, daß Heidegger nicht nur der nationalsozialistischen
Herrschaft Vorschub geleistet hat, sondern zugleich prädesti¬
niert war, ihren Nachlaß zu sichten — weil er, wie er selbst sag¬
te, doch immer nur „das Selbe“ tat: dem beschädigten Leben
die höheren Weihen der Ontologie, den Zauber der Existen¬
tialphilosophie zu spenden, statt es als solches zur Sprache zu
bringen.
Schopenhauer erscheint in dieser Hinsicht fast als eine Art
Alternative zu Heidegger. Obwohl selbst bei diesem deutschen
Philosophen des 19. Jahrhunderts bereits Gefahr drohe, die
„Misere der conditio humana“ zum „Alibi gesellschaftlicher
Abstinenz zu machen“, wie Am£ry in seinem Merkur-Essay von
1978 schreibt, kann er doch als „‚Gefährte‘‘ bestehen, weil er das
Leid der Menschen nicht zum Mittel des philosophischen
Zwecks macht. Bei der Lektüre seiner Bücher überwiegt dar¬
um „das Gefühl (...), man werde von ihm als Individuum di¬
rekt angesprochen“ - nicht als „Dasein im Geschehen der Ge¬
meinschaft‘ oder als „Hüter des Seins“. In diesem Punkt kann
sich Amery natürlich auf die Erfahrungen des Senators Bud¬
denbrook berufen.
Empathie kennzeichnet auch Amerys späten Aufsatz über
Nietzsche, der 1975 ebenfalls im Merkur erschienen ist. In die¬
sem Fall jedoch kommt sie wirklich überraschend, hatte Amery
doch einmal — kurz nach seiner Befreiung aus dem Ver¬
nichtungslager — gefordert, Nietzsches Bücher zu verbieten, da
sie in besonderer Weise zu den geistigen Voraussetzungen des
Naziterrors zählen. Zwar distanziert er sich auch jetzt von des¬