denz zur Historisierung, die den zeitgeschichtlichen Forschun¬
gen bewußt oder unbewußt innewohnt.
Wenn Amery sagt, daß es ihm nicht um die Ursachen des
Antisemitismus gehen könne, die seien schließlich eine Sache
der Antisemiten, und eben diese würden mit einer solchen
Ursachenforschung nur entlastet, dann ignoriert Rabinovici die¬
se Position nicht einfach wie ein Großteil der akademischen
Antisemitismusforschung. Der Gedanke, daß die Ursachen zu
erforschen, die Täter entlaste, wird vielmehr zum regulativen
Prinzip eben der Erforschung der Ursachen: das Festhalten des
Unterschieds als Bedingung, die Einheit zu denken.
In diesem Zusammenhang steht auch der titelgebende Essay
des Bandes, „Credo und Credit“, der sich mit dem christlichen
Judenhaß auseinandersetzt — als der Voraussetzung des modernen
Antisemitismus: Weder trennt Rabinovici hier das eine vom an¬
deren, noch läßt er es ineinander aufgehen: er weiß vielmehr
zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit philosophisch prä¬
zise zu unterscheiden: „Ohne Christentum und seinen Anti¬
judaismus wären die nationalsozialistischen Verbrechen nicht
möglich gewesen. Wohlgemerkt, die jahrhundertelange, kirch¬
liche Hetze war notwendig, damit Auschwitz möglich wurde,
doch der christliche Antijudaismus hätte nicht notwendig zu
Auschwitz führen müssen.“
Diese Offenheit erreicht Rabinovici fast überall in seinen
Essays. Indem er sich weigert, dem was geschehen ist, einen
Sinn zu geben, der die Tat des einzelnen wie das Leid des ein¬
zelnen auslöscht, gelangt er nirgendwo zu beruhigenden
Ergebnissen. Besonders eindrucksvoll darin der Text über das
Verbot der Bilder, der von der Darstellbarkeit der Shoah han¬
delt und bei dem Dilemma endet: daß selbst jenes Bilderverbot
— ebenso wie die Bilder, gegen die es sich richtet — an einem
bestimmten Punkt die historische Untat zu einem metaphysi¬
schen Problem verkehrt — „als wäre Auschwitz in einem Jenseits
zu finden und nicht ein Ort in Europa.“
Eben eine solches präzise, der Metaphysik kritisch zuge¬
wandte Analyse, die sich der automatischen Historisierung wie
der falschen Abstraktion erwehrt, vermag auch eine Kritik an
Michel Foucault zu formulieren, die dieses Denken gewisser¬
maßen beim Wort nimmt. Rabinovici zitiert Foucault: „Die
Macht wird nicht auf die Individuen angewandt, sie geht durch
sie hindurch.“ Was er mit seinen Essays hier hinzufügt, ist die
Erkenntnis und die Erfahrung: Die Macht geht durch die Indi¬
viduen hindurch, aber sie geht jeweils auf ganz andere Art durch
sie hindurch, und enthebt nicht davon, zwischen Tätern und
Opfern zu unterscheiden.
Auf solche Weise wird der Machtbegriff, der eigentlich von
Nietzsche herstammt, oder die Vorstellung von der Banalität des
Bösen, die Hannah Arendt um ihre besten Einsichten bringt, kri¬
tisiert — ohne die Erkenntnisse preiszugeben, die das Kritisierte
doch auch enthält. Auf solche Weise wird Rabinovici konkret,
er artikuliert in seinen Essays das Nichtidentische, klagt es ein
gegen die Abstraktion, die in der Wissenschaft und Philosophie
triumphiert, und weiß doch, daß er das Identische im Auge be¬
halten muß, auf den Begriff nicht verzichten kann, soll das
Denken kritisch bleiben.
Es erstaunt mich, daß der Essayband Credo und Credit keinen
Essay über Jean Amery enthält -und es erstaunt mich zugleich
auch nicht: was als Thema vermißt wird, ist oftmals mehr als
ein bloßes Thema: Bedingung des Schreibens. Bei keinem an¬
deren zeitgenössischen Autor der jüngeren Generation liegt es
für meine Begriffe so nahe wie bei Doron Rabinovici, die
Bedingung für das eigene Schreiben in der Unbedingtheit zu
sehen, mit der einmal Amery als Essayist an die Öffentlichkeit
getreten war.
So gratuliere ich der Jury zu ihrer Entscheidung für die dies¬
jährige Verleihung des Jean Amery-Preises für Essayistik — und
dir lieber Doron, die herzlichsten Glückwünsche.
I
Aus Jean Amérys Literatur-Essays ist uns seine Neigung zu vor¬
modernen Ritualen und Inszenierungen der Kunst des Lesens
vertraut. Solche altertiimlich anmutenden Rituale werden gern
für die Begegnung mit großen Werken verwendet. Die Bilder
von Weg, Schwelle und Eintritt ins Werk, der Selbstentwurf des
Literaturkritikers als eines anderen Vergil, der uns lesende Wan¬
derer begleitet auf dem Gang in den Zauberberg der Bücher —
diese und ähnliche Bilder sind Teil eines literarisch-pädago¬
gischen Spiels mit mythischen Initiationsformeln, in denen sich
indirekt Amérys hoher Begriff des Lesers ausspricht. Denn um
den Leser vor allem geht es in seiner pädagogisch orientierten
ästhetischen Theorie.
Amerys Thomas-Mann-Essay aus dem Jahr 1975 trägt den
Titel „Bergwanderung. Noch ein Wort zu Thomas Mann“. Das
bedeutet, daß er den Stößen gelehrter Literatur das „Wort ganz
einfach eines Lesers“ entgegensetzen möchte, „der das zaub¬
rische Gebirge seit fünfundvierzig Jahren zu durchwandern nicht
müde wurde, der ganze Absätze der Thomas-Mann-Prosa aus¬
wendig weiß, so daß sie längst Teil seiner inneren Welt sind“.
Was in „Bergwanderung“ der zaubrische Gebirgswald ist, in
den der kundige Wanderer uns mitnimmt, ist in Amérys Proust¬
Essay die auratische „Welt des Werks“, in die der Schriftsteller
als Leser uns „einzutreten“ auffordert: „Um anzulangen bei
Marcel Proust bedarf es keiner literarhistorischen Schulung, son¬
dern innerer Sammlung“, und vor allem bedarf es „Zeit, Zeit,
Zeit‘. Belohnt werde man für diesen „ganz eigenen mühseli¬
gen Weg“ und den Tausch von Lebenszeit in Lesezeit mit ei¬
nem Leben in der imaginären Fülle des Werks - „ein Leben oh¬
ne Proust ist ein Leben des Mangels“.