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Lothar Baier hat in seinem Essay zur ,,Kritik des schreibenden
Lesers Jean Améry“ aus dessen Thomas-Mann-Lektiire das Wort
von der ,,zarten Haltung“ des Lesers tibernommen, das ihm fiir
Amerys „eigene Art der Lektüre kennzeichnend zu sein“ scheint:
„Sie läßt das Ganze unangetastet, umkreist es, notiert Beobach¬
tungen unter wechselnder Beleuchtung, holt da und dort ein De¬
tail heran, versucht aber niemals, durch gewaltsame Schnitte hin¬
ter das Geheimnis der Form zu kommen.‘* Das scheint ganz auf
der Linie von Amérys Spiel mit der Unschuld eines Lesers zu
liegen, der „ganz einfach“ durch die Werke wandert, auf einem
Weg, für den es „keiner literarhistorischen Schulung“ bedarf,
und es spricht daraus gewiß auch Amerys Reserve gegenüber
der Verselbständigung von Formfragen in der Literatur der Mo¬
derne. An einer Stelle von Amérys Schnitzler-Essay heißt es so¬
gar im Hinblick auf „Therese — Chronik eines Frauenlebens“,
daß der Dichter „die Wirklichkeit eines Frauenlebens“ „zu hoch
in Ehren hält“, als daß er „es durch erklügelte Stilmittel zu ‚Lite¬
ratur’ zu machen“ versuchte. Literatur sei „hierbei doch“ ent¬
standen, vielleicht, „weil Arthur Schnitzler hier nur nacherzählte“
und weil „der Meister raffinierter Konstruktion im Drama“ hier
„auf jedes konstruierende procedere verzichtet“.‘ Daß „für die¬
sen obstinaten Subjektivisten die Erzählung gelebten Lebens den
obersten Rang einnimmt“, bemerkte schon Alfred Andersch in
seinem Essay über Jean Amery unter dem Titel „Anzeige einer
Rückkehr des Geistes in Person“. Von daher sei „die Entwick¬
lung seines eigenen Werks zur autobiographischen Erzählung“
vorgegeben, „die, weil sie erzählt, immun ist gegen Ideologie“.”
Man wird schwerlich daran festhalten können, daß die auto¬
biographische Erzählung per se „immun“ sei „gegen Ideologie“,
und eher davon ausgehen, daß die sprachreflexiven Konstruk¬
tionen der modernen Literatur einen Versuch darstellten, das
Ideologische eben des scheinbar naiven Erzählens bewußt zu
machen. Auch ist bei Amery selber der wichtige Stellenwert der
sprachlichen Reflexion und der literarischen Konstruktion nicht
zu unterschätzen. Noch ein so bedrängend autobiographischer
Essay wie „Über die Tortur“ zeigt höchstes sprachliches Be¬
wußtsein bei der Darstellung des mit ihm Geschehenen, und der
Autor macht dieses Sprachbewußtsein auch zum Gegenstand
seiner Darstellung. Überhaupt nehmen in Amerys Literatur¬
Essays Überlegungen zu sprachlichen Formfragen einen gar nicht
so unwichtigen Rang ein, als es seine eher rhetorische Absage
an die Formproblematik vermuten ließe.‘ Jean Amery war zum
Beispiel der erste, der das für Bachmanns späte Prosa charak¬
teristische Formgesetz im Miteinander von scheinbar naiver Un¬
mittelbarkeit und „wohldurchdachter kompositorischer Tech¬
nik“ entdeckt hat.’ An der Sprache Thomas Manns zeigte er, wie
sie durch ihre leitmotivischen Wiederholungen die denotative
Kraft der Zeichen abschwächt und dadurch die Urteile über die
Wirklichkeit ins Schweben bringt. Die thematische Wieder¬
holung der Sprachfiguren lasse an „musikalische oder tänzeri¬
sche Figuren“ denken und verleihe der erzählten Welt dadurch
etwas Ambivalentes, als würde alles „einem träumerisch nach¬
giebigen Zweifel“ ausgesetzt. Lothar Baier sieht darin eine Form
von „Gerechtigkeit“, in der es keine letzten Urteile gibt.‘ Man
könnte von „epischer Gerechtigkeit‘ sprechen, um auf die Affi¬
nitäten zwischen Amery und Georg Lukäcs aufmerksam zu ma¬
chen. Denn bei beiden wird formale Künstlichkeit nur als „ge¬
staltete‘“ gerechtfertigt und bei beiden Kritikern nehmen die
Romane den höchstem Rang ein, in denen im Bürger noch der
Citoyen zu erkennen ist und im Politischen die Idee der revo¬
lutionären Demokratie. Ist das nicht der Fall, wie bei Charles

Bovary und Homais in Flauberts Roman, kann Améry aus der
„zarten Haltung“ des schreibenden Lesers heraustreten und sich
in einen jakobinischen Ankläger verwandeln, der die Dekadenz
der modernen Literatur, wie Lukäcs, darin erblickt, daß sie die
großen Menschheitsideale der Französischen Revolution ver¬
raten habe. Den streitbaren Ankläger finden wir auch dort, wo
„die existentielle Bedeutung des Erzählens“ von der „struktu¬
rale Analyse“ oder dem „Postulat eines abstrakten gesellschaft¬
lichen Seins“ außer Kraft gesetzt wird. Alfred Andersch hat für
diese kämpferische Kritik das — nicht eben glückliche — Bild
vom „Panzerschützen“ gewählt, dessen „Geschoß den Panzer
der Systeme“ „durchschlägt“.’

Amerys gereiztes Verhältnis sowohl zum französischen Struk¬
turalismus wie zur Frankfurter Schule und vor allem zu Theodor
Adorno hatte seinen Grund darin, daß er im „Postulat eines ab¬
strakten gesellschaftlichen Seins“ keinen Platz für seine kon¬
kreten geschichtlichen Erfahrungen sah und keine Stelle für die
revolutionären bürgerlichen Traditionen, wie sie Heinrich Mann
für Amery so vorbildlich repräsentierte. Lesen sich doch Amerys
„Kritiken eines Lesers“ wie Erzählungen von den verspielten
Möglichkeiten revolutionärer Demokratie in Deutschland, wäh¬
rend die abstrahierende Formanalyse Theodor W. Adornos vor
allem auf die Totalität von Verdinglichung und Tauschabstraktion
als Grundverfassung der bürgerlichen Gesellschaft zielte. Amery
wollte deshalb nicht einmal die Bedeutung wahrhaben, die der
musikästhetischen Theorie Theodor W. Adornos so offensichtlich
in Thomas Manns „Doktor Faustus“ eingeräumt wurde. Er stell¬
te ihn als kleines „„Schwätzerchen“ in einen Winkel des Romans,
während er doch dort in der Gestalt des Teufels als Musikkritiker
den Begriff der Zwölftonmusik als ästhetischem Prinzip der uni¬
versalen Tauschabstraktion in der spätbürgerlichen Gesellschaft
abhandeln darf.

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Trotz aller Naivitäts-Topoi und trotz der ressentimentgeladenen
Ablehnung der abstrahierenden Form-Analyse sind Amerys
literaturkritische Essays freilich alles andere als „naiv“. Wenn
er „literarhistorische Schulung‘ ablehnte, heißt das nicht, daß
man von seiner eigenen Schulung und seinem Wissen als kri¬
tischer Begleiter des Lesers absehen sollte. Und hinter dieser
Schule des Lesens stand die gesellschaftlich und geschichtlich
reflektierte Erfahrung eines jüdischen Opfers und die ästheti¬
sche und pädagogische Bewußtheit eines homme de lettres seit
seiner Jugendzeit.

Sehr früh schon muß die Welt der Literatur auf den Heran¬
wachsenden ihre Attraktion ausgeübt haben. Bereits vom sech¬
zehnjährigen Wiener Gymnasiasten Johann Mayer ist eine li¬
terarische Publikation im „Wiener Boten“ nachzuweisen („Der
Schüler Hauser wird zum Herrn Direktor gerufen“). Der Sieb¬
zehn-Achtzehnjährige habe bei seinem Berlinaufenthalt 1929/
30, liest man in Jean Amerys „Örtlichkeiten“, „als blutjunger
Außenseiter“ im Romanischen Cafe in Berlin „bewundernd auf
Walter Mehring, Anton Kuh, die bösen ‘Literaten’“ geblickt, auch
im Cafe Uhlandeck bisweilen sein „windiges Zelt“ aufgeschla¬
gen, in jenem „gehobenen Boheme-Cäafe, „wo Heinrich Mann
seinen Freunden Rendezvous gab.‘ — „Einmal, sagte ich mir“,
und damit schließt diese Erinnerung, „wirst du vielleicht da¬
zugehören“.'”

1930 begann Amery, wieder in Wien, eine Buchhandelslehre,
und wenig später dürfte der Zwanzigjährige bereits in der Volks¬
hochschule Wien-Volksheim, Zirkusgasse 48, in der Abendbuch¬
handlung mitgearbeitet und an den literarischen Veranstaltungen

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