die dieses in der Zeit von 1939, dem Eintreffen
der Flüchtlinge aus dem besiegten republika¬
nischen Spanien, bis 1943 erfuhr. Breiten
Raum nehmen im zweiten Teil seiner Arbeit
die schwierigen Lebensbedingungen und
Zustände in den verschiedenen Lagern ein.
Eggers konnte zur Veranschaulichung häufig
auf Aussagen von Internierten zurückgreifen
und besonders und wohl erstmalig dank neu¬
er Quellenfunde auf die Internierung der „klei¬
nen Leute‘ eingehen. Der dritte Abschnitt geht
den Entscheidungen der deutschen Behörden
und der Deportation der Juden nach Auschwitz
nach. Und das letzte große Kapitel beschäftigt
sich mit der schwierigen Rolle der Hilfs¬
organisationen für die Flüchtlinge und Inter¬
nierten.
Christian Eggers’ Studie ist mit Sicherheit als
Standardwerk und unverzichtbares Buch für al¬
le zu bezeichnen, die sich mit dem französi¬
schen Exil und den Menschen, die dieses
Emigrationsland wählten oder — wohl besser
und in den meisten Fällen — wählen mußten,
beschäftigen.
Martin Krist
Christian Eggers: Unerwünschte Ausländer.
Juden aus Deutschland und Mitteleuropa in
französischen Internierungslagern 1940 —
1942. Berlin: Metropol 2002. 566 S. Euro
26,60
Über die Modernität
deutschsprachiger Exilliteratur
und Ästhetik als Stiefkind der
Exilliteraturforschung
Bettina Englmanns Studie „Poetik des Exils“
beginnt mit einem kritischen Überblick zur
Exilforschung der letzten Jahrzehnte auf dem
Gebiet der deutschsprachigen Exilliteratur.
Eine systematische Begriffsabgrenzung er¬
scheint der Autorin vor allem in Bezug auf den
inflationär metaphorischen Gebrauch von
Exil und Exilliteratur notwendig zu sein, der
diese Kategorien als universale „Metapher für
Autoren und Texte, die Aspekte von Ent¬
fremdung, Isolation, Sprachproblematik,
Klage etc. aufweisen“ (S.4) verflacht. Solch ei¬
ne Begriffsverflachung bewertet Englmann —
angesichts jener Autoren und Autorinnen, die
unter den schrecklichsten realen Bedingungen
aus ihrem Land vertrieben wurden - als zy¬
nisch. Aber auch die künstliche Konstruktion
einer klar abgegrenzten „Epoche Exil“ von
1933-45 greift ihr zufolge zu kurz und kann
weder der geschichtlichen Realität, noch den
poetischen Spezifika von Exilliteratur gerecht
werden. Exilliteratur solle vielmehr „alle Texte,
welche von einem exilierten Autor verfaßt wer¬
den, unabhängig von Inhalt und Form“ ($. 5)
einschließen. Hinsichtlich ihrer Methode
wählt die Autorin —- komplementär zu den bis¬
her ihrer Meinung nach stark sozialgeschich¬
tlich geprägten Zugängen innerhalb der Exil¬
literaturforschung - einen dezidiert ästhetisch¬
poetologischen Ansatz, d. h. sie untersucht aus¬
schließlich die künstlerisch-stilistische Gestal¬
tung der Werke und vergleicht diese mit poe¬
tologischen Konzepten des Exils. Zentrale The¬
se ihrer Studie ist es dabei, „eine verschütte¬
te Modernitätslinie in der [deutschsprachigen]
Exilliteratur durchgängig sichtbar zu machen“
(S. 11). Den Beginn dieser Modernitätslinie or¬
tet sie einerseits theoretisch in den poetologi¬
schen Konzepten und andrerseits praktisch in
der eigentlich literarischen Produktion der
20er- und 30er-Jahre. An diese knüpft Exilli¬
teratur als Literatur des 20. Jahrhunderts — wie
die Studie zeigt - in vielfacher Hinsicht an,
was sich nicht zuletzt auch in den avantgar¬
distischen Positionen ihrer Theorien spiegelt.
Der erste Hauptteil der Studie führt zunächst
in die grundlegende kulturelle „Kommuni¬
kationskrise“ des Exils ein, d.h. in die Tat¬
sache, daß die entstehende Literatur nicht mehr
mit der Rezeption innerhalb eines feststehen¬
den gemeinsamen Werteparadigmas rechnen
durfte. Im zweiten Hauptteil folgt - ausgehend
vom Gesichtspunkt eines künstlerischen Span¬
nungsverhältnisses von Realität und Fiktion —
eine vergleichende Analyse ausgewählter
poetologischer Texte der Autoren und Theo¬
retiker Erich Auerbach, Walter Benjamin,
Bertolt Brecht und Carl Einstein. Anhand der
philosophisch-ästhetischen Zentralkategorie
,.Mimesis“ problematisiert die Autorin das
Vorherrschen der Forderung nach literarischem
Realismus bzw. dezidiert politischem Engage¬
ment als wissenschaftlichen Bewertungskri¬
terium für Exilliteratur. Dies — so Englmann
— hätte vielfach zu einer Vernachlässigung
künstlerischer Qualitäten und Spezifika (wie
z.B. den avantgardistischen Tendenzen) ge¬
führt. Auch der nächste Punkt der Untersu¬
chung poetologischer Konzeptionen des Exils,
der sich auf die jeweils sehr unterschiedlichen
Wirklichkeits- und Geschichtsdiskurse bei
Alfred Döblin, Stefan Zweig, Bertolt Brecht
und Walter Benjamin konzentriert, steht ganz
unter diesem Zeichen. So arbeitet Englmann
— nachdem sie sich wiederum von der für hi¬
storische Romane des Exils häufig angewand¬
ten alleinigen Fokussierung auf Aktualitäts¬
und Realitätsbezüge distanziert hat — heraus,
wie die Dekonstruktion narrativer Strukturen
als Symbol für den Verlust eines positiv li¬
nearen Geschichtsbildes poetisch bereits ganz
gezielt von den verschiedenen behandelten
Autoren thematisiert wurde. Auch ein durch
Fortschrittspessimismus motivierter Rückgriff
auf Mythen muß dabei — wie sie anhand der
unterschiedlichen Positionen darlegt — nicht
einhergehen mit einer reaktionär-ideologischen
Geschichtskonzeption. Vielmehr ist die, spä¬
ter von Hayden White aufgezeigte, sprachlich¬
konstruktivistische Analogie zwischen Histo¬
riographie und Literatur, schon in theoretischen
(und literarischen) Texten des Exils als auto¬
reflexiver Diskurs über die Konstruktion von
Literatur und Geschichte präsent.
Das Kapitel „Die Produktivität des Mythos im
Exil“ ergänzt die Analyse der Exil-Poetiken
schließlich mit der Herausarbeitung zweier un¬
terschiedlicher Beispiele für eine dekonstruk¬
tiv-kritische Mythenrezeption und -produkti¬
on. Anhand der Essays sowie seiner beiden
Romane „Der Tod des Vergil“ und „Die Ver¬
zauberung“ erschließt Englmann Hermann
Brochs sprachmythische und erkenntnistheo¬
retische Literaturkonzeption, um sie sodann mit
der Psychoanalyse und mythologische Deu¬
tungsmuster verbindenden Position Thomas
Manns zu vergleichen, die sie aus dessen
„Joseph“-Romanen, dem „Doktor Faustus“,
theoretischen Texten und dem Briefwechsel
des Schriftstellers rekonstruiert.
Der dritte Hauptteil der Studie untersucht nun
schließlich unter dem Titel „Weltentwürfe der
Exilliteratur — Exilromane“ ein umfangreiches
Spektrum von Prosatexten hinsichtlich ihrer
narrativen Komposition und poetischen Struk¬
turen. Anhand der im theoretischen Teil aus¬
gearbeiteten poetologischen Konzepte wird
aufgezeigt, auf welch vielfältige Art und Weise
Exilromane die Entwicklung der Moderne fort¬
führen und bereichern. Ausgehend vom
Spannungsverhältnis zwischen der sprachlich¬
literarischen Darstellbarkeit von Wirklichkeit
und der künstlerischen Konstituierung fiktio¬
naler Welten gliedert Englmann die unter¬
suchten Romane in „Erinnerte Welten‘ (Soma
Morgenstern, H.W. Katz, Ilse Losa, Joseph
Roth), „Verstörte Welten“ (Elisabeth Augustin,
Veza Canetti, Alexander Moritz Frey, Hans
Henny Jahnn) und „Fabelhafte Welten“ (Al¬
fred Döblin, Franz Werfel, Leo Perutz). Die Re¬
sultate ihrer dezidiert ästhetischen Untersu¬
chungsmethode versteht sie hierbei als wich¬
tige Ergänzung bisheriger Analysen, die Exil¬
literatur etwa hauptsächlich als geschichtliche
Quelle oder im Sinne einer „Bewältigungs¬
literatur“ (S. 203) von Betroffenen erforscht
haben.
Insgesamt arbeitet die Autorin etliche thema¬
tische Kernpunkte (geschichtliche Wirklichkeit
und Fiktion, Identität, Sprache und literarische
Kommunikation — um nur einige zu nennen)
der Exilliteraturforschung unter einem auf¬
schlußreichen literaturwissenschaftlichen
Gesichtspunkt neu heraus. Die systematische
Abgrenzung gegenüber anderen Untersu¬
chungsmethoden und in der Forschung z.T.
verwendeten Begriffsinhalten geht hierbei viel¬
leicht streckenweise etwas über das notwen¬
dige Maß hinaus. Was die Studie — zusammen¬
gefaßt — jedoch leistet, ist ein repräsentativer
Befund kulturphilosophischer und poetologi¬
scher Konzeptionen des Exils, der gemeinsam
mit den umfassenden Primärliteraturanalysen
die faszinierende Komplexität des Gedanken¬
guts der behandelten AutorInnen aufzeigt und
mit Sicherheit für weitere Arbeiten fruchtbar
gemacht werden kann.
Barbara Deißenberger
Bettina Englmann: Poetik des Exils. Die Mo¬
dernität der deutschsprachigen Exilliteratur.
Tübingen: Niemeyer Verlag 2001. 450 S.