Irene Heidelberger-Leonards
Essays über Jean Amery
Jean Amerys Werk ist nicht vorstellbar ohne
seine permanente kritische Auseinandersetzung
mit der Literatur, ohne seinen stets erneuerten
Versuch, in zeitgenössischen und klassischen
Werken die anderen, verborgenen Seiten und
Möglichkeiten auszuloten. Das schlagendste
Beispiel dafür ist sein Romanessay „Charles
Bovary, Landarzt. Porträt eines einfachen Man¬
nes“, in dem er, so Heidelberger-Leonard, „die
soziale Wirklichkeit der Romanfiguren“ gegen
die Intentionen Gustave Fauberts geltend
macht. Amery klagt im Namen des betroge¬
nen Ehegatten das, was mehr ist, ein: „... ich
war mehr, als ich war, gleich jedem Existie¬
renden, der täglich und stündlich im Wider¬
stand gegen die Anderen und die Welt aus sich
heraustritt, zu verneinen, was er war, und zu
werden, was er sein wird.‘ Amerys Protest rich¬
tet sich gegen die prinzipielle Leugnung die¬
ses „Mehr“ in der Darstellung des menschen¬
verachtenden Flaubert. Und zugleich setzt er
sich mit dem von ihm verehrten Jean-Paul
Sartre auseinander, auf dessen Begriff der
Selbstiiberschreitung (,,dépassement“) er an¬
spielt, und mit Sartres Spätwerk „Der Idiot der
Familie“.
Ähnlich fühlt man sich in Irene Heidelberger¬
Leonards Essays an den geschichtlichen Ort
der Entstehung, in die Werkstatt des Gedan¬
kens und der Kunst zurückversetzt. Hier wer¬
den keine fertig auf dem Markt vorgefunde¬
nen Gebilde einem ästhetisierenden oder ge¬
schmäcklerischen Urteil unterzogen, sondern
die Zusammenhänge und Motive erforscht, aus
denen die Werke entstanden sind. Jean Amery
wurde nach dem gewaltigen Eindruck, den
„Jenseits von Schuld und Sühne“ (1966) hin¬
terließ, selbst zum Sujet literarischer Ge¬
staltung. Alfred Andersch hat ihn in seinem
Roman „Efraim“ (1967) gewissermaßen por¬
trätiert, Ingeborg Bachmann ihm in „Drei Wege
zum See“ in der Figur des Trotta einen Dop¬
pelgänger an die Seite gestellt. Trottas „For¬
mulierungen“ zeugen „von einer vollkomme¬
nen Einfiihlung in Jean Amérys Welt“, aber er
ist doch eher ein ,,Konservator eines unsicht¬
baren Museums österreichischer Geistesge¬
schichte“, ein Nachfolger der Trotta aus
Joseph Roths „Radetzkymarsch“ und „Ka¬
puzinergruft“ und nicht der „vom Tode be¬
drohte Zwangsexilierte“. „Amerys Verderben“,
so Heidelberger-Leonard, „läßt sich nicht in
diese durch und durch österreichische Ge¬
nealogie einreihen ..., weil seine Biographie
... den absoluten Bruch darstellt.“ Dennoch hat
Amery Bachmanns Erzählung mit dankbarer
Rührung aufgenommen und die Autorin nach
ihrem Tod eine „ungekannte Freundin“ ge¬
nannt.
Porträtiert Andersch Amery, konzipiert
Bachmann ihm einen Doppelgänger, so ersetzt
ihn Thomas Bernhard in seinem Roman
„Auslöschung. Ein Zerfall‘ (1986) durch den
Allgemeinjuden und Rabbiner Eisenberg (die
Namensübereinstimmung mit dem amtieren¬
den Oberrabbiner der Wiener Kultusgemeinde
war hoffentlich zufällig), zeichnet philosemi¬
tisch das Bild eines Juden, das wirkliche
Kenntnisnahme konkreten jüdischen Schick¬
sals erübrigt. Von Amery spricht Bernhard an
anderer Stelle bloß ein wenig abschätzig als
einem „deutschen Kritiker“, dessen Selbst¬
mord in Salzburg ihm als Bestätigung seiner
These, Salzburg sei eine „tödliche Krankheit“
erwähnenswert scheint. In „Auslöschung‘“, re¬
feriert Heidelberger-Leonard Bernhard Sorgs
Kritik, wird Auschwitz zum Mittel einer „rou¬
tinierten Instrumentalisierung, die lediglich der
,eigenen’ Todessucht und —lust die erwünsch¬
te Fallhöhe verleihen soll“. (Vgl. dazu auch
Gerhard Scheits Aufsatz „Wiedergutma¬
chungsgesten“ in MdZ Nr. 3/1998, 41f.)
Über Jean Amery stößt Heidelberger-Leonard
auch ein Tor zu einer weiteren, offeneren
Diskussion österreichischer Nachkriegslitera¬
tur auf, einer Diskussion, der durch den ver¬
ständlichen patriotischen Stolz auf die Her¬
vorbringungen von Landsleuten in Österreich
selbst oft allzu enge Grenzen gesetzt sind. So
stellt sie zur Debatte, ob Ilse Aichingers Roman
„Die größere Hoffnung“ seinen frühen Erfolg
nicht der Kompatibilität mit der damals do¬
minierenden Literaturideologie der „Inneren
Emigration“ verdankt, durch die „Einübung ei¬
ner umfassenden Opferrede“ den Lesern er¬
möglichte, „von der Differenz von Deutschen
und Juden nach Auschwitz abzusehen“.
Zentral für Heidelberger-Leonards Studien ist
der mit Jean Améry unternommene Versuch,
die Problematik jüdischer Identität ihrer dun¬
klen Schicksalhaftigkeit zu entheben, ihre po¬
litische und kulturelle Dimension wiederzu¬
gewinnen. Und dies auf der Grundlage eines
mit Amery geteilten leidenschaftlichen Fest¬
haltens an den Idealen der Aufklärung, an der
„Erziehung des Menschengeschlechts“.
Konstantin Kaiser
Irene Heidelberger-Leonard: Jean Amery im
Dialog mit der zeitgenössischen Literatur.
Essays. Hg. von Hans Höller. Stuttgart: Aka¬
demischer Verlag Hans-Dieter Heinz 2002. 178
S. (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik.
Unterreihe: Salzburger Beiträge, Nr. 42).
Laurenz Krisch, 1959 in Bad Gastein geboren,
hat Wirtschaftspädagogik und Geschichts¬
wissenschaften studiert, unterrichtet seit 1984
an Salzburger Tourismusschulen und ist mit
verschiedenen lokalgeschichtlichen Publika¬
tionen hervorgetreten. So etwa zu den
Wahlerfolgen der Nationalsozialisten in der
Spätphase der Ersten Republik im Pongau und
Pinzgau. Sechs Jahre Arbeit stecken in seiner
Dissertation, die er jetzt in leicht modifizier¬
ter Form als Buch vorlegt. Und Doktorvater
Ernst Hanisch ist voll des Lobes über diese
„Pionierarbeit“. Nebenbei bemerkt: Wird in
Zukunft in Zeiten von Studiengebühren und
dem damit verbundenen Zwang eines raschen
Abschlusses noch auf solche Forschungsun¬
terfangen zu hoffen sein? Immerhin ist der
Aufwand für so eine mikrohistorische Unter¬
suchung enorm: Große Datenmengen zur wirt¬
schaftlichen und politischen Situation, vor al¬
lem aber zum Wahlverhalten der Menschen
von Bad Gastein, einem sich aus drei unter¬
schiedlichen Ortsteilen zusammensetzenden
Gebiet - der sozialdemokratischen Hochburg,
dem Arbeiter- und Eisenbahnerortsteil Böck¬
stein, Badbruck bzw. dem eigentlichen Bad
Gastein — mussten verarbeitet und kritisch be¬
wertet werden. „Um die Vielschichtigkeit des
Nationalsozialismus im Ort einigermaßen
entwirren zu können, war der ‚Blick im Klei¬
nen’ notwendig“, schreibt Krisch. Und es ver¬
steht sich von selbst, dass vor allem die vie¬
len Wahlanalysen, die er für diese Arbeit an¬
zustellen hatte, ohne Tabellenkalkulations¬
programm in keinem akzeptablen Zeitraum
durchführbar gewesen wären. Aussagen der
Allgemeingeschichte über den Nationalso¬
zialismus dienen hierbei lediglich als Rahmen
„eines noch nicht fertig gezeichneten ver¬
schwommenen Bildes der Vergangenheit.
Wenn man dieses Bild dann aus der Nähe be¬
trachtet, fällt auf, dass noch viele kleine
Ergänzungen möglich und notwendig sind. In
genau diesen Ergänzungen zur Allgemein¬
geschichte sehe ich das Aufgabengebiet der
Mikrogeschichte“, merkt der Autor an. Und so
bedient sich Laurenz Krisch auch der oral hi¬
story nur, um Hintergrundinformationen zu er¬
langen. Er hat zwanzig Zeitzeugen befragt und
zitiert aus zwölf dieser Interviews seiner für
die Studie anonymisierten Gesprächspartner.
Neben einer Vielzahl von Archivbeständen
bzw. relevanten Zeitungen und Zeitschriften
und selbstverständlich der bislang veröffent¬
lichten bzw. als wissenschaftliche Arbeiten vor¬
liegenden Literatur, greift er auch auf unver¬
öffentlichte Lebenserinnerungen und Schriften
zurück, so etwa jener von Ing. Anton Winter¬
steiger, einem im örtlichen Bauamt Be¬
schäftigten, der sich als überaus einflussreich
erweisen sollte, gelang es ihm doch offenbar
früh, alle Kollegen aus dem Amt für den Na¬
tionalsozialismus zu gewinnen sowie im Ort
erfolgreich für die NSDAP zu agitieren bzw.
eine Organisation der Partei zu etablieren.
Später stieg er sogar bis zum Gauleiterstell¬
vertreter von Salzburg auf. An der Person
Wintersteiger lässt sich auch die Bedeutung er¬
kennen, welche sozusagen dem kleinen Führer
vor Ort zugekommen ist. Denn nicht nur die
massive, mehr oder minder raffinierte Propa¬
ganda, die aus Deutschland kam, war aus¬