Paul M. Lützeler über
Hermann Broch
In dem 2001 im Rahmen der „Wiener Vor¬
lesungen“ im Rathaus gehaltenen Vortrag legt
Paul M. Lützeler den Schwerpunkt auf Brochs
Exilerfahrung, ihre Voraussetzungen und Be¬
wältigung. So sieht er Brochs Kosmopolitis¬
mus im Geist der Humanität, seine Massen¬
wahntheorie in der europäischen Kulturkrise
als Religionskrise, seine Völkerbund-Reso¬
lution im Kontext seiner Bemühungen um
Frieden und Menschenwürde im Sinne einer
International Bill of Rights and of Respon¬
sibilities und seine Gedanken zu einer uni¬
versellen Universität im Rahmen eines Welt¬
ethos begründet.
Wenn auch etliche Broch’sche Ideen im
Laufe der Jahrzehnte im kulturellen und po¬
litischen Kontext aufgenommen und verarbeitet
worden sind, so bleibt doch auch seine Ein¬
schätzung des Intellektuellen wahr, der ein
„Utopist (sei), weil er geborener Revolutionär
ist. Denn im Gegensatz zu den materiellen
Interessen des Bürgers (auch des proletari¬
schen) kennt der geistige Mensch nur ein ein¬
ziges Interesse, und das heißt Erkenntnis und
Menschlichkeit. ... So war es immer, so wird
es wohl immer wieder sein, unweigerlich, und
darum wird der Intellektuelle immer wieder zu
einem endlosen Kampf aufgerufen werden,
ewig besiegt, trotzdem der ewige Sieger.“ (H.
Broch in seinem Auzfsatz „Die Intellektuellen
und der Kampf um die Menschenrechte“).
Hubert Christian Ehalt, Herausgeber für die
Kulturabteilung der Stadt Wien, hebt in seinem
Vorwort über die Idee und Entwicklung der
„Wiener Vorlesungen im Rathaus‘ das An¬
liegen hervor, „eine Schärfung des Blicks auf
die Differenziertheit und Widersprüchlichkeit
der Wirklichkeit“ einem breiten, auch außer¬
universitären Publikum zu ermöglichen.
Manfried Welan legt in seinen einleitenden
Worten Grundaspekte Broch’schen Denkens
dar, wie die Verbundenheit mit dem Wien des
Fin de siecle samt seinen heftigen politischen
und sozialen Umbrüchen, sein Kultur- und
Rechtsdenken in universellen und allgemein
menschlich gültigen Dimensionen und sein
Gestelltsein in die Faktizität des Politischen.
Bruni Blum
Paul Michael Lützeler: Hermann Brochs
Kosmopolitismus: Europa, Menschenrechte,
Universität. Mit Vorworten von Hubert
Christian Ehalt und Manfred Welan. Wien:
Picus 2002. 54 S. Euro 7,90/SFr 14,20 (Wie¬
ner Vorlesungen. Ba. 91).
Hinweis auf weiterführende Literatur:
Hermann Broch: Visionary in Exile. The 2001
Yale Symposium. Paul Michael Lützeler,
Matthias Konzett, Willy Riemer, Editors.
Camden House 2003, 208 S.
Rene Schickele als Chronist der
frühen NS-Zeit
Unter der Rubrik „Ich schneide die Zeit aus“
dokumentierte Franz Pfemfert, 1911-32 Her¬
ausgeber der politisch-literarischen Wochen¬
schrift Die Aktion, nach dem Beginn des Ersten
Weltkrieges die in Zeitungen und Zeitschriften
veröffentlichten „Kouplets“ der Kriegsbe¬
jahung und Kriegsbegeisterung: „Die Schere
quitscht; ich schneide die Zeit aus; sie soll...
für sich und für mich“ sprechen, formulierte
er 1915. Ihm verwandt in der politischen Ge¬
sinnung war damals Ren& Schickele, 1883 im
elsässischen Oberehnheim geboren, ebenfalls
Förderer der jungen expressionistischen Au¬
toren, Lyriker, Dramatiker, Romancier und
1914-19 Redakteur der kriegsgegnerischen, li¬
terarisch-politischen Zeitschrift „Die Weißen
Blätter‘, der, wegen seines pazifistischen En¬
gagements von den Behörden drangsaliert,
1915 nach Zürich emigrierte und seit 1919 in
Badenweiler lebte. Dort beginnt Schickele,
dem als Vertreter eines „geistigen Elsässer¬
tums“ lebenslang die deutsch-französische Ver¬
ständigung am Herzen lag, am 10. Juni 1932
ein „Grosses Tagebuch“, in dem er die politi¬
schen Geschehnisse und Erlebnisse kom¬
mentiert und mit Hilfe eingeklebter Zeitungs¬
ausschnitte auch dokumentiert: „Ich könnte die
ganze Zeitung ausschneiden“ heißt es einmal
bezeichnenderweise. Der Vergleich mit Pfem¬
ferts Vorgehen liegt also nahe, und nicht von
ungefähr, sondern ganz bewußt in Anlehnung
an sein früheres publizistisches Engagement
nennt Schickele seine Aufzeichnungen „Die
Blauen Hefte“, nach Anlage und Textgestal¬
tung waren sie wohl für eine spätere Publi¬
kation vorgesehen. Erhalten haben sich vier
Hefte; die letzte Eintragung datiert vom 18.5.
1933, aus der Emigration in Sanary-sur-mer
an der französischen Mittelmeerküste, wo
Schickele seit September 1932 lebte. Sein Haus
in Badenweiler sah er nie wieder.
Die zu Schickeles Nachlaß im Marbacher Lite¬
raturarchiv gehörenden und jetzt zum ersten
Mal aufwendig veröffentlichten Hefte - in ei¬
ner Faksimile-Edition mit textgenetischer
Transkription — wurden von der Herausgeberin
mit einem profunden Kommentar versehen, der
u.a. ihre Bedeutung für Schickeles Spätwerk
würdigt und den verwickelten und gewiß nicht
spannungsfreien Beziehungen zwischen
Schickele und Thomas Mann nachgeht. Doch
mehr noch. Diese Aufzeichnungen legen auf
exemplarische Weise vor allem Zeugnis davon
ab, wie die NS-Hertschaft in den Monaten vor
und nach der „Machtergreifung“ auf einen hell¬
sichtigen und politischen Kopf gewirkt hat: Was
Schickele aufschreibt, kommentiert und aus¬
schneidet, war nun aber keineswegs nur Ein¬
geweihten zugänglich, sondern entspricht im
Grunde dem, was jeder andere Zeitgenosse und
aufmerksame Zeitungsleser eigentlich auch hät¬
te sehen, lesen und wissen müssen. Zumal die
Ausschnitte aus der Tagespresse, die Schickele
hier dokumentiert — „Dabei lasse ich die völ¬
kische Presse mit Fleiss außer Acht“, notiert
er am 3.4. 1933 - offenbaren oft genug ein Aus¬
maß an Häme und Niedertracht, an intellektu¬
eller und moralischer Verkommenheit, das den
Leser heute noch verstért und Schickele mit
großem Recht schlußfolgern läßt: „Wenn man
das liest, könnte man meinen, das deutsche Volk
leide an moral insanity.‘ So heiBt es etwa in
einem Schickele aus Pforzheim zugesandten
Zeitungsausschnitt, der die von SA, SS und ei¬
ner johlenden Volksmenge begleitete und ,,in
der gesamten badischen Presse als ein Volks¬
fest angekündigte“ Überführung demokrati¬
scher badischer Politiker, darunter der am
4.4.1934 ermordete Reichstagsabgeordnete Dr.
Ludwig Marum, vom Karlsruher Gefängnis in
die Straf- und Landesarbeitsanstalt Kieslau in
allen Einzelheiten wiedergibt: „Allen scheint
die Haft gut zu bekommen. Im ganzen befin¬
den sich zur Zeit 68 Sozialdemokraten und
Kommunisten in der Anstalt. Die Speisekarte
ist nicht so reichlich wie bei parlamentarischen
Abenden im Staatsministerium. Am Samstag
gab es zum Empfang eine kräftige deutsche
Linsensuppe, sie soll den Herren ganz gut ge¬
schmeckt haben.“
„Jede Nummer dieser Zeitung“, so Schickele
am 16.4. 1933 nach der Lektüre des Völkischen
Beobachters, im Vergleich zu dem ihm das bis¬
her Ausgeschnittene harmlos vorkommt, „ist
eine Greuelpropaganda grossen Stils, die ein¬
zige, die es gibt. Das teuflische Spiel kann nicht
gut anders enden als mit der Ausrottung der
Juden oder dem Zusammenbruch des Haken¬
kreuzes.“
René Schickele stirbt im Februar 1940 in
Vence, einige Monate nach dem ‚polnischen
Krieg‘, den er ebenfalls vorausgesehen hatte:
„Man hat den Eindruck — er hat demissioniert.
Er wollte eigentlich nicht mehr“, schreibt
Valeriu Marcu am 12.2. 1940, wenige Tage
nach Schickeles Tod, an Hermann Kesten.
Theo Meier-Ewert
René Schickele: Die blauen Hefte. Edition
und Kommentar. Hg. von Annemarie Post¬
Martens. Frankfurt/M., Basel: Stroemfeld/
Roter Stern 2002. 2 Bde. im Schuber, 260
und 264 S. Euro 48,- (Edition Text. 5).
Die beiden Fotos in ZW Nr. 2/2003, S. 33 und
36 (im Beitrag Rudolf Habringers tiber Vic¬
tor Urbancic), wurden leider vertauscht. Das
Bild mit den dicken Männern und dem jun¬
gen Urbancic stammt aus Mannheim, das Bild
mit den mageren Leuten und dem schon et¬
was älteren Urbanceic aus Island. Wir bitten um
Nachsicht.
Im Beitrag Konstantin Kaisers über Tamar
Radzyner, ebenfalls in ZW Nr. 2/2003, wird
das Geburtsjahr Radzyners mit 1932 angeben.
Das entsprach dem bisherigen Kenntnisstand,